Die Datendrehscheibe der europäischen Autoindustrie
Von Friedrich List
Im Internet der Dinge sind gemeinsame Standards das große Problem. Denn sobald Maschinen, Produkte, Sensoren und Software automatisiert Daten austauschen sollen, müssen sie einander verstehen: Eine vernetzte Welt muss zahllose Datenquellen zusammenführen, wenn sie die Grundlage von Diensten sein sollen. Genau das hat sich das Fraunhofer-Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO) vorgenommen: „Entourage“ heißt das von der ENX Association betriebene Projekt.
Automotive im Internet der Dinge
Der Projektname steht für „Enabling Trusting Ubiquitous Assistance“ („Vertrauenswürdige allgegenwärtige Unterstützung ermöglichen“). Konkretes Ziel ist die Entwicklung einer Datendrehscheibe, über die intelligente Assistenzsysteme Informationen aus den verschiedensten Quellen filtern, zusammenführen und für Nutzer oder Anwendungen zugänglich machen. Die Datenquellen sind GPS-Navigationsgeräte, Wetterstationen oder Staumelder, Fahrplaninformationssysteme oder Thermostaten. Im Sommer 2015 wurde das Vorhaben im BMWi-Wettbewerb Smart Service Welt ausgezeichnet.
Entourage wird im Frühjahr 2016 starten und soll drei Jahre laufen. Hinter dem Projekt steht die ENX Association, eine rechtlich eigenständige Vereinigung von rund 1700 Unternehmen und Verbänden aus der europäischen Automobilindustrie (Audi, VW, Bosch, PSA Peugeot Citroen, Renault etc.) sowie aus Kommunikationsdienstleistern wie T-Systems, Verizon Business oder ANXeBusiness. Die Vereinigung hat für Entourage die Konsortialführerschaft übernommen. Sie betreibt ENX, eine Netzwerklösung der europäischen Automobilindustrie zum Austausch von Daten für Einkauf, Entwicklung und Produktionssteuerung. Unternehmen, die an ENX angeschlossen sind, können in ganz Europa einheitlich kommunizieren. ENX ist ein IP-Netzwerk wie das Internet, jedoch mit eigenen Leistungs- und Sicherheitsstandards.
Damit zeigt sich einmal mehr, dass M2M (Machine-to-Machine-Kommunikation) im Internet der Dinge hierzulande vorrangig die Domäne der Automobilindustrie ist. Die Aufgabenstellung ist jedoch im Wesentlichen dieselbe, vor der auch die Industrie 4.0 steht: „Das Kernproblem ist, dass die vielen Quellen Informationen auf unterschiedliche Art und Weise bereitstellen“, sagt Dr. Michael Kubach, der das Projekt am Fraunhofer IAO leitet. „Für Anbieter von Assistenzsystemen ergibt sich also die Herausforderung, jede Datenquelle einzeln einzubinden. Dies erschwert die Entwicklung smarter Assistenten, die durch die Kombination unterschiedlichster Informationen intelligente Unterstützung anbieten können.“
Standards, Konditionen und Sicherheit
Kubach sieht bei dieser Automotive-Datenplattform drei Herausforderungen:
- Die erste besteht in den gemeinsamen Standars, wie man sie generell im Internet of Things benötigt: „Der Anbieter für Heimautomation nutzt einen anderen Standard als der, der die Rollladensteuerung liefert“, erläutert Kubach. Wer z.B. sein Haus digital aufrüsten möchte, muss sich also eine möglicherweise recht teure Individuallösung leisten.
- Als zweite Herausforderung sieht er den bisher unklaren Markt für Daten: „Bisher gibt es keine monetären Anreize, Daten miteinander auszutauschen“, sagt er. Große Marktplätze wie der Apple App Store sind für die Anbieter kostenpflichtig. Also setzen im Moment einzelne wirtschaftlich starke Akteure ihre eigenen Standards durch.
- Das dritte Problemfeld sind Datenschutz und Datensicherheit. Denn die eingespeisten Daten könnten, so Kubach, abgefangen werden. Oder der Produzent könnte leer ausgehen, indem ein anderer Teilnehmer auf kostenlos verfügbare Daten seine kostenpflichtigen Dienstleistungen aufsetzt. Deswegen müsste gewährleistet sein, dass die Daten für Anbieter und Nutzer sicher hinterlegt sind.
Gerade Schutz und Sicherheit sind neuralgische Punkte in der Diskussion. Denn die neue Datendrehscheibe soll eine Mittlerfunktion zwischen verschiedenen Datenformaten und Diensten einnehmen. Dreh- und Angelpunkt ist die Bereitschaft der Produzenten, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Wenn sie aber die Gefahr sehen, dass Daten missbraucht oder zweckentfremdet werden oder sogar bei problematischen Akteuren im weltweiten Netz landen, wird kaum jemand bereit sein, eine gemeinsame Umgebung zum Austausch zu nutzen.
Rahmenbedingungen für den Datenaustausch
Hier setzt die Forschung im Rahmen von Entourage an. Das Ziel ist eine sichere Umgebung für unterschiedliche Plattformen und Netzdienste. Also umfasst die Forschung neben den technischen Lösungen auch organisatorische und rechtliche Komponenten.
- Technisch gesehen sind offene und leistungsfähige Schnittstellen zum Datenaustausch notwendig. Entourage muss Möglichkeiten zur Verschlüsselung und zum Identitätsmanagement enthalten, damit die Daten geschützt bleiben und gewährleistet ist, dass nur authentifizierte Nutzer auf sie zugreifen können – und nur auf diejenigen Daten, auf die sie auch Rechte haben. Außerdem muss das System (sehr) große Datenmengen speichern und verarbeiten können.
- In organisatorischer Hinsicht müssen Fragen wie die Zertifizierung von Diensten oder die Vergütung geklärt werden. „Ich muss mir im Klaren sein, welche Anreize es gibt, Daten zur Verfügung zu stellen“, so Dr. Michael Kubach.
- In rechtlicher Hinsicht müssen Datenschutzvorgaben beachtet werden, besonders die, die deutsche Gesetze vorgeben. Ein Datenmarktplatz braucht zudem einen rechtlichen Rahmen in Form Allgemeiner Geschäftsbedingungen. Auch müssen die Haftung für Schäden und die Eigentümerschaft der Daten geklärt sein.
Fazit: Europaweit vernetzte Smart Services
Wenn all dies gelingt, könnten intelligente Assistenzsysteme ohne Hindernisse die verschiedensten Datenquellen nutzen und Informationen zu einem für den jeweiligen Anwender wichtigen Paket zusammenführen. Dr. Michael Kubach sieht in der entstehenden Technologie ein großes Entwicklungspotenzial:
- „Dieser neue Ansatz beseitigt Marktbarrieren und gestaltet anwendungs- und herstellerübergreifende Angebote als Smart Services. Das eröffnet insbesondere für kleine und mittlere deutsche und europäische Unternehmen ein zukunftsträchtiges Betätigungsfeld.“
Denn hier, so Kubach, entstehe eine Möglichkeit zum offenen Marktzugang und für offene Standards, eine Chance, die nicht von einzelnen, großen Akteuren kontrolliert wird. So ließen sich Strukturen verhindern, die sich kaum noch an nationale und europäische Regeln halten müssten. Und deutsche Unternehmen könnten sich über heimische Sicherheitsstandards positiv profilieren.
Teil 1 zählt an den Fingern ab, wie viele Datenverbindungen man künftig braucht, um alle Maschinen, Fahrzeuge, Sensoren und Smartphones zu vernetzen. Teil 2 berichtet von M2M-Lösungen, die bereits funktionieren. Ein wichtiger Treiber ist die Automobilindustrie. Teil 3 kehrt zur Ausgangsfrage zurück: Welche Netze sind in der Lage, das Internet der Dinge auszuhalten?
Friedrich List ist Journalist und Buchautor in Hamburg. Seit Anfang des Jahrhunderts schreibt er über Themen aus Computerwelt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raumfahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Internationalen Raumstation. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.