Normalarbeitsverhältnisse haben in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Steigerung des realen Stundenverdienstes erzielt. „Je nach Familienstand verdiente ein Facharbeiter im Jahr 2006 in realer Rechnung zwischen 48 und 81% netto pro Stunde mehr als 1970, und in den letzten 20 Jahren lag der Zuwachs immerhin noch zwischen 21 und 33%“, erklärt ifo-Präsident Hans-Werner Sinn in einem Aufsatz für den aktuellen ifo Schnelldienst.
Die Interpretation der vom Arbeitsministerium veröffentlichten Zahlen durch einige Medien und abgeleitete Forderungen nach einem Mindestlohn bezeichnet Sinn als verfehlt. Die Nettorealeinkommen seien in den vergangenen 20 Jahren weit mehr gestiegen, als behauptet wurde.
Laut Sinn ergibt sich der geringe Anstieg bei den von der Presse zitierten Zahlen vor allem durch verschiedene Struktureffekte. Während sich der Nettoreallohn bei Normalarbeitsverhältnissen in Westdeutschland ordentlich entwickelt habe, sei der Durchschnitt durch die Einbeziehung der niedrigen Löhne in den neuen Bundesländern und bei Geringqualifizierten, die unter anderem wegen der Hartz-IV Reformen endlich wieder Stellen gefunden hätten, nach unten gedrückt worden. Dies sei keine problematische Entwicklung, die korrigiert werden müsse, sondern Teil eines Genesungsprozesses des deutschen Arbeitsmarktes.
Die deutsche Vereinigung sei genauso zu begrüßen wie die Schaffung neuer Stellen für Geringqualifizierte, auch wenn dabei rechnerisch der Durchschnitt der Löhne gedrückt worden sei. Im Übrigen müsse man berücksichtigen, dass ein Teil des niedrigen Zuwachses durch eine starke Verringerung der Arbeitszeiten erklärt werde, die in den vergangenen drei Jahrzehnten stattgefunden habe.
„Deutschland ist trotz der Lohnzurückhaltung der vergangenen drei Jahre und der realen Abwertung im Euroraum sein Lohnkostenproblem noch lange nicht los“, erklärt Sinn. Die Lohnkosten für Industriearbeiter seien nach den neuesten Statistiken hinter Norwegen und Dänemark noch immer die dritthöchsten auf der ganzen Welt. Der verheerende Trend bei der Vernichtung der Industriearbeitsplätze, der in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zu beobachten war, sei noch lange nicht gebrochen.
Insofern seien Versuche, die deutschen Löhne durch Mindestlohnschranken zu erhöhen, kontraproduktiv und gefährlich. Sinn verweist auf Berechnungen des ifo-Instituts, nach denen es durch die Einführung eines Mindestlohns von 7,50 Euro pro Stunde zu Stellenverlusten in Höhe von 1,1 Millionen Jobs käme. „Es handelt sich um eine extrem seriöse und belastbare Schätzung“, stellt Sinn fest und betont, dass sich die politischen Entscheidungsträger all dies noch einmal vor Augen führen sollten, bevor sie mit dem Versuch ernst machten, „das Rad der Geschichte gegenüber den Schröderschen Reformen wieder zurückzudrehen“.
Der Artikel „Eine Anmerkung zur Reallohnentwicklung in Deutschland“ ist im ifo-Schnelldienst 19/2007 erschienen und steht per Download in voller Länge zur Verfügung. (ifo/ml)