Der gegenwärtige Wirtschaftsaufschwung hat nach aktueller Einschätzung der Deutschen zu keiner größeren Gerechtigkeit bei der Verteilung des Einkommens geführt. Im Gegenteil: Nur noch 15% sagen, der Aufschwung komme auch bei ihnen an. Damit ist bei dieser Frage ein historischer Tiefstand erreicht. Noch im Jahr 2006 gaben 28% der Bundesbürger an, das Einkommen sei gerecht verteilt. Das geht aus einer repräsentativen Befragung der Bertelsmann Stiftung zum Thema „Soziale Gerechtigkeit“ hervor.
In der Studie wird der Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit“ in eine Leistungs-, Familien-, Chancen-, Generationen- und Verteilungsgerechtigkeit gegliedert. Nach Auffassung der Bevölkerung ist vor allem die Verteilungsgerechtigkeit am wenigsten gegeben. Bei den Vorschlägen, wie man dieses Problem beheben könnte, geben die Deutschen mit 74% der Bekämpfung der Kinderarmut die höchste Priorität. Nahezu gleich auf liegt die steuerliche Entlastung von Geringverdienern mit 72%. Es folgen die Sicherung eines Mindesteinkommens durch Mindest- oder Kombilöhne (69%) sowie die Abschaffung von Steuerschlupflöchern (67%). Deutlich weniger Befragte sprechen sich für eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer (35%), eine stärkere Belastung von Unternehmensgewinnen (37%) oder die Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommenssteuer (26%) aus.
Höchste Priorität für mehr Generationengerechtigkeit sollten aus Sicht der Bevölkerung Reformen der sozialen Sicherungssysteme haben. 81% der Befragten sehen den Schlüssel zur Lösung dieses Problems in der Reform des Renten- und Gesundheitssystems. Zwei Drittel der Deutschen halten Hilfen für den Aufbau einer privaten Altersvorsorge (68%), mehr Geld für Bildung und Ausbildung um die junge Generation fit für die Zukunft zu machen (68%) und eine stärkere Förderung der Familien (64%) für besonders wichtig.
Eine Ausbildungsplatzgarantie für alle Schulabgänger ist aus Sicht der Bevölkerung die mit großem Abstand wichtigste Maßnahme für mehr Chancengerechtigkeit in Deutschland: Mit 81% Zustimmung rangiert damit die Forderung, dass alle Schulabgänger einen Ausbildungsplatz bekommen, in der Rangliste der Maßnahmen für mehr Chancengerechtigkeit noch deutlich vor einer besseren Förderung der Kinder im Vorschulalter (60%).
Nur etwa ein Drittel der Bevölkerung hält die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems (35%) oder eine Erleichterung des Übergangs von der Haupt- über die Realschule zum Gymnasium für besonders wichtig, um in Deutschland mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Auch eine bessere Förderung von Migranten, damit diese sich beruflich und gesellschaftlich leichter integrieren können, wird im Sinne von mehr Chancengerechtigkeit von lediglich 27% der Menschen in Deutschland für besonders wichtig gehalten.
Geht es um mehr soziale Gerechtigkeit, sehen Bürger die skandinavischen Länder als Vorbild. Eine deutliche Mehrheit von 57% der Bürger orientiert sich dabei an den nordeuropäischen Ländern Schweden und Dänemark – und das trotz oder gerade wegen der sozialpolitischen Umbaureformen der skandinavischen Wohlfahrtstaaten vor allem in den 80er und 90er Jahren.
Die Soziale Marktwirtschaft Deutschlands gilt beim Thema soziale Gerechtigkeit derzeit nur noch wenigen als vorbildlich. Lediglich noch 5% der Bürger nennen Deutschland als das entwickelte Industrieland, das ihren Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit am nächsten kommt. Befragt nach dem entwickelten Industrieland mit der geringsten sozialen Gerechtigkeit, nennt eine große Mehrheit von über zwei Drittel (69%) aller Bürger die USA. Es folgt Großbritannien mit 11%. Zusammen genommen ergibt sich daraus eine eindeutige Ablehnung der Gerechtigkeitsvorstellungen des angelsächsischen Wirtschafts- und Sozialmodells durch die Bevölkerung in Deutschland.
Die Studie steht online per kostenlosem Download zur Verfügung. (idw/ml)