Die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz nehmen zu, gleichzeitig hat sich das Betriebsklima in vielen Unternehmen und Organisationen verschlechtert. Die Arbeitswirklichkeit unterliegt tiefgreifenden Veränderungen, die in den vergangenen Jahren noch an Geschwindigkeit zugelegt haben. Die Studie „Arbeit und Leben in Organisationen 2008“ des Frankfurter Sozialpsychologen Professor Rolf Haubl und seines Kollegen Günther Voß, Professor für Industrie- und Techniksoziologie der Technischen Universität Chemnitz, belegt diese negative Entwicklung.Ein Großteil der Organisationen befindet sich nach der Studie mitten in turbulenten Veränderungsprozessen, wenige sind bereits dabei, erneut umzudenken, weil sich die Folgen der Ökonomisierung als negativ erweisen. „Der ökonomische Druck der letzten Jahre und der daraus entstehende ständige Reformzwang haben zu einer höchst problematischen Blase sich verdichtender Probleme in Organisationen geführt, die lange Zeit kaum wahrgenommen wurde, nun aber ‚platzen‘ könnte“, befürchtet Haubl, Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität, und weist auf die Parallelen zur aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise hin. Den permanenten Umbau können die Beschäftigten oft nicht mehr nachvollziehen. Das führe dazu, dass sich viele Mitarbeiter nicht mehr mit ihrer Organisation identifizieren können und sie sich gleichzeitig gezwungen sehen, professionelle Standards und Arbeitsqualität zu verletzen, um kurzfristige ökonomische Zielmargen zu erfüllen.
Die Führungskräfte verstehen sich nach Ansicht des Frankfurter Wissenschaftlers in diesem Prozess primär als hart drängende Change-Agents, die den ökonomischen Druck nach unten weitergeben und ihre Mitarbeiter mit den Folgen weitgehend allein lassen. „Die Beschäftigten beklagen, dass ihre Chefs oft die notwendigen Führungskompetenzen nicht mit bringen, um den Wandel für die Mitarbeiter erträglich zu unterstützen – Führungskräfte scheinen in vielen Bereichen selber überfordert“, so Dr. Bettina Daser, Sozialpsychologin im Frankfurter Team von Prof. Haubl. Die Aussagen der Interviewten belegen laut Daser, dass heute Positionen von Managern besetzt werden, die vermeintlich profitable Veränderungen durchsetzen, weil sie kein Verständnis für die Qualitätsstandards „guter Arbeit“ haben und deshalb auch nicht beurteilen können, welche Ressourcen zu deren Erfüllung unentbehrlich sind.
Kollegialität und Solidarität schwinden, die Beschäftigten setzten sich weniger häufig gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen ein, oft sei die Belegschaft in Gruppen gespalten, die sich wechselseitig das Leben schwermachen, glauben die Wissenschaftler. „So werden zum Beispiel aus Gründen der Statussicherung junge Beschäftigte von alten nur unzureichend eingearbeitet. Im Gegenzug versuchen sich junge Beschäftigte zu profilieren, indem sie die Traditionsbestände entwerten“, erläutert Haubl. Er mahnt außerdem: Auch unterschiedliche Arbeitsverhältnisse führten häufig zu Spannungen: Da immer mehr Beschäftigte nur befristete Arbeitsverträge haben oder auch in ungeschützten oder prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, werden Mitarbeiter mit unbefristeter Vollzeitstelle beneidet.
Die Arbeitsintensität hat in den meisten Organisationen in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen: Arbeitsprozesse werden verdichtet und beschleunigt, Nischen beseitigt. Für manche Beschäftigte ist diese Intensivierung eine Quelle der Arbeitsmotivation, für die meisten bedeutet dies aber nach Meinung der Wissenschaftler Belastungen, die sie über kurz oder lang nicht mehr bewältigen.
Der angestoßene Wandel innerhalb der Organisationen ist äußerst ambivalent – so haben die Wissenschaftler bei ihren Befragungen festgestellt, dass Veränderungsprozesse oft abgebrochen und durch neue ersetzt werden, ohne dass man die Ergebnisse eines der Prozesse abwartet. Diese Überlagerung von Veränderungsprozessen ist nicht zuletzt eine Folge eines bestimmten Karrieremechanismus: Wer über Veränderungsideen verfügt, steigt auf, und muss seinen Aufstieg mit neuen Veränderungsideen rechtfertigen. „Können sich die Beschäftigten dem Innovationstempo nicht so schnell anpassen, neigen sie dazu, lediglich die Rhetorik zu wechseln, um sich selbst zu schützen, was eine ungeschönte Bilanzierung der Erfolge der Veränderungen erschwert“, warnt Haubl. „Und sie und ihre Führungskräfte entwickeln die Sehnsucht nach Abkürzungen, was sie anfällig macht, Beratern zu glauben, die suggerieren, sie würden über schnelle ‚Erfolgsrezepte‘ verfügen.“
Die Autoren der Studie plädieren dafür, dass Beschäftigte, die unter dem permanenten Druck stehen, sich ständig neuen Arbeitsbedingungen anpassen zu müssen, aktive Selbstfürsorge betreiben: „Doch damit sind nicht wenige überfordert“, befürchtet Daser. Je mehr die projektförmige Arbeit zunimmt, umso wichtiger erscheint es den Wissenschaftlern, dass Beschäftigte inner- und überbetriebliche soziale Netzwerke aufbauen und pflegen. Eine Zusammenfassung der Studienergebnisse steht als kostenloser Download online zur Verfügung. (idw/ml)