Mindestlohndebatte: Grenze für sittenwidrige Löhne reicht nicht

Die neue schwarzgelbe Bundesregierung überlegt derzeit die Einführung eines Gesetzes gegen sittenwidrige Löhne. Im Gespräch ist eine Lohnuntergrenze, die ein Drittel unter dem branchenspezifischen Durchschnittslohn liegen könnte. Das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung moniert nun, dass bei dieser Rechnung eine Reihe von nicht mehr existenzsichernden Löhnen entstehen würden.Nach Berechnungen des Tarifarchivs des WSI wären danach in einigen Branchen Löhne im Bereich zwischen zwei und sechs Euro nicht sittenwidrig. Legt man die Grenze von 33,3 % Abweichung nach unten zugrunde, begänne die Sittenwidrigkeit bezogen auf die untersten Tarifvergütungen beispielsweise im sächsischen Friseurhandwerk erst unterhalb von 2,04 Euro Stundenlohn. Im Berliner Bewachungsgewerbe läge die 33,3-Prozent-Grenze bei 3,66 Euro, in der Steine-Erden-Industrie in Thüringen unterhalb von 4,55 Euro, in der westdeutschen Systemgastronomie bei 4,80 Euro und im Nordrhein-westfälischen Einzelhandel bei 5,15 Euro.

„Eine solche Grenze wäre absolut unzureichend“, sagt Dr. Reinhard Bispinck, Leiter des WSI-Tarifarchivs. „Zur Bekämpfung von sittenwidrigen Löhnen und zur Begrenzung des Niedriglohnsektors insgesamt ist ein verbindlicher Mindestlohn erforderlich, der bei Vollzeiterwerbstätigkeit eine eigenständige Existenzsicherung ermöglicht“, so der Tarifexperte. Das sei mit Löhnen von zwei bis sechs Euro nicht möglich. Ein Blick auf die westeuropäischen Nachbarländer zeige, dass dort die gesetzlichen Mindestlöhne zurzeit zwischen acht und neun Euro pro Stunde liegen.

(idw/ml)

Kommentar

Aus Gewerkschaftssicht ist die Kritik verständlich, aus Unternehmersicht unsinnig. Warum? Die Gewerkschaften und linkspolitische Kräfte gehen in ihrer Argumentation davon aus, dass eine Vollzeitbeschäftigung per se zum Bestreiten des Lebensunterhalts eines Arbeitnehmers ausreichen muss. Das ist sozial gedacht aber wirklichkeitsfremd und unter dem Strich weniger sozial, als es den Anschein hat.

In der Realität gibt es Tätigkeiten – auch meist durch regionale Schwächen mitverursacht – die den potenziellen Abnehmern der Leistung (z. B. Konsumenten) nicht ausreichend Geld wert sind, um auf Arbeitgeberseite betriebswirtschaftlich entsprechende Löhne zu erlauben. Wo aber nicht ausreichend Geld erwirtschaftet werden kann, kann dieses auch nicht in Form von Löhnen ausgezahlt werden.

Wird ausreichend Geld erwirtschaftet, regelt – eher früher als später – der Markt das Ungleichgewicht aus eigener Kraft. Das beweist schon die Tatsache, dass extreme Niedriglöhn vor allem in wirschaftsschwachen Regionen vorkommen.

In den Fällen, in denen die Produktivität bezogen auf den regionalen Marktwert betriebswirtschaftlich keine ausreichend hohen Löhne zuläßt, würden bei einem existenzsichernden Mindestlohn oberhalb des betriebswirtschaftlichen Limits die entsprechenden Arbeitsplätze umgehend gestrichen werden müssen oder erst gar nicht entstehen.

Für diese dann nicht mehr Beschäftigten – sprich: Arbeitslosen – müsste der Staat vollumfänglich die Existenzsicherung übernehmen. Am Ende also hätte der Steuerzahler die volle Zeche zu zahlen, während die Betroffenen – soweit sie tatsächlich arbeitswillig sind, und das ist die Mehrheit – sich abgeschoben und untätig fühlen, oft noch mit der Scham verbunden, auf „Stütze“ angewiesen zu sein.

Unter diesen Aspekten wäre eine Zuzahlungsregelung (Kombilohn), wie von der Union vielfach vorgeschlagen, bei der die Differenz zwischen Lohn und Existenzsicherung vom Staat ausgeglichen wird, erheblich besser und auch menschenwürdiger. Die drei Vorteile: Die Betroffenen fühlten sich gebraucht statt abgeschoben, sie blieben im Arbeitsmarkt und auf dem aktuellen Stand ihres Berufs und der Steuerzahler hätte weniger Kosten zu tragen, da zumindest ein Teil des Lebensunterhalts von den Betroffenen selbst erarbeitet werden würde.

Hinzu kommt, dass auch gering bezahlte Jobs einer schwierigen Wirtschaftsregion wenigsten eine gewisse Hoffnung auf bessere Zeiten bewahren helfen. Ansonsten entsteht schnell eine erdrückende und sozial explosive Endzeitstimmung.

Das von der neuen Regierung angedachte Gesetz gegen sittenwidrige Löhne kann und will wohl so gesehen auch kein Ersatz für einen Mindestlohn sein. Es ist aber eine wirksame Maßnahme gegen marktschädliche Dumpinglöhne und damit eine Hilfe für die ansässige solide Wirtschaft, von der indirekt natürlich auch die Arbeitnehmer profitieren würden.

Die Frage ist allerdings, ob das Label „Gesetz gegen sittenwidrige Löhne“ am Ende nicht zumindest eine verbale Mogelpackung ist, denn es handelt sich in erster Linie um  eine Art Schutzzoll gegen Dumping von außen und erst in zweiter Linie um ein Gesetz, das in eher seltenen Fällen „unsittliche“ Löhne verhindern kann – und das auch nur in Regionen mit intakter Wirtschaft, in denen Niedrigstlöhne ohnehin kaum marktfähig sind.

Wünschenswert wäre allerdings, dass derartige Maßnahmen den richtigen Namen bekommen, denn nur eine offene Diskussion ist in der Lage, die Menschen auf Dauer einzubinden und Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

(ml)