Die Buchbranche steht der Online-Publikation sogenannter verwaister Werke überwiegend kritisch gegenüber. Als verwaiste Werke bezeichnet man Bücher, die nicht mehr in Papierform verlegt werden und deren Rechteinhaber kaum noch ausfindig gemacht werden können. Mit der Digitalisierung z. B. durch Google oder auch auf europäischer Ebene würden deshalb vor allem Werke einer breiten Öffentlichkeit neu zugänglich gemacht, die zurzeit im Verborgenen schlummern – so sieht das der Branchenverband BITKOM und mahnt eine sachlichere Diskussion an.Im Rahmen derartiger Digitalisierungsprojekte werden sogenannte gemeinfreie Werke digitalisiert, deren Urheberrecht abgelaufen ist, etwa Klassiker wie Goethe. Bücher beider Kategorien werden derzeit elektronisch erfasst und publiziert. Bisher wurden 10 Millionen Bücher eingescannt, bis 2015 sollen es 15 Millionen sein.
In den USA stehen Google und die amerikanischen Verlage kurz vor einer Einigung und präsentierten gestern vor Gericht einen neuen Einigungsvorschlag. Das Verfahren läuft unter dem Stichwort Book Settlement. Nach amerikanischem Recht muss im konkreten Fall ein Gericht entscheiden, ob der Vorschlag für einen Interessenausgleich angemessen ist.
„Wichtig ist, dass es Rechtsklarheit für die Digitalisierung gibt – dies gilt für private wie öffentliche Projekte“, so BITKOM-Präsident Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer gestern in einer Pressekonferenz zum Thema. Der Verband wies außerdem darauf hin, dass das in Deutschland zugängliche Google-Angebot nur Bücher umfasst, für die Google eine Lizenz hat oder deren Urheberrecht abgelaufen ist.
„Es überwiegen klar die Chancen, wenn Privatunternehmen sich bei der Digitalisierung von Kulturgütern engagieren – aus kultureller und wirtschaftlicher Perspektive“, betonte Scheer. „Nicht nur Unternehmen wie Google, sondern auch Autoren und Verlage können sich hier neue Einnahmen erschließen.“ Unter anderem für Verfasser wissenschaftlicher Texte sei die Online-Publikation verwaister Werke besonders attraktiv. Google etwa kooperiere bei seinem Buch-Angebot weltweit mit 20.000 Autoren und Verlagen.
Aus BITKOM-Sicht gibt es berechtigte Zweifel, ob staatliche Stellen die notwendige Digitalisierung alleine stemmen können. Private und öffentliche Projekte wie das von der EU-Kommission geförderte Europeana müssten sich ergänzen. „Dass mit Google aktuell ein amerikanisches Unternehmen in Führung geht, sollte kein Anlass zu Protesten sein, sondern ein Ansporn für Europa.“ Es sei Aufgabe der Europäer, sicherzustellen, dass das eigene Kulturerbe in angemessenem Umfang und mehrsprachig im Internet präsent sei.
Bei der derzeit in den USA angestrebten Einigung geht es unter anderem um die Frage, wie die Rechteinhaber im Detail an den Erlösen des Google-Buchangebots beteiligt werden. Da die Kooperation für Autoren und Verlage freiwillig sein soll, wird außerdem diskutiert, wie europäische Autoren und Verlage ihre Rechte geltend machen können.
(BITKOM/ml)
Kommentar
Dass sich endlich ein in der Sache kompetenter Industrieverband für eine Versachlichung der Diskussion um Bücher und ihre Digitalisierung einschaltet, ist höchst begrüßenswert und längst überfällig, denn die Kontrahenten sind sich leider schon rein ideologisch spinnefeind – zum Schaden der deutschen Gesamtwirtschaft und der Kultur.
Unter der Oberfläche mit seiner Diskussion um Kultur und deren angeblichem Ausverkauf geht es um den alten Kampf der bewegungslahmen Besitzstandswahrer gegen jene, die neue Chancen sehen können und ergreifen wollen. Das Gejammere, Google würde sich typisch amerikanisch an den Kulturgütern Europas bereichern, ist vollgesogen mit Krokodilstränen: Hätte Google nicht endlich begonnen, diese Kulturgüter zu digitalisieren, würde in Europa noch lange nicht über eine Digitalisierung nachgedacht werden. Dabei hätten auch den extremsten Kulturfanatikern die Verluste jüngster Archiv-Katastrophen, wie jener in Frankfurt, zu denken geben sollen.
Interessant ist, dass ausgerechnet einer der bedeutendsten deutschen Büchertempel im konservativen Bayern, die Bayerische Staatsbibliothek in München, als erster im großen Stil eine Kooperation mit Google wagte, um so noch rechtzeitig dem Zerfall zahlreicher Bücher mit übersäuertem Papier vorzubeugen, aber auch kostbare alte Handschriften endlich allen interessierten Menschen weltweit zugänglich zu machen. Das beweist, dass Bewahren nicht unbedingt Verharren bedeutet. Und die Kooperation stützt die These Scheers, dass staatliche Hilfe allein derartige Projekte nicht stemmen kann. Allerdings muss seitens der Europäer scharf darauf geachtet werden, die eigenen Rechte an diesen Kulturgütern durch derartige Kooperationen nicht blauäugig abzutreten.
(ml)