Der Diktator ist weg, die Demonstrationen gehen weiter. Trotz der Flucht von Ex-Präsident Zine El Abidine Ben Ali kommt Tunesien nicht zur Ruhe. Was bedeutet das für deutsche mittelständische Unternehmen, die in Tunesien tätig sind? In erster Linie natürlich Unsicherheit. Aber im Wirtschaftsleben bergen Neuanfänge immer auch neue Chancen. Vor allem bei einem positiven politischen Wandel in Richtung Demokratie ist deswegen ein großes Potenzial für deutsche Unternehmen zu erwarten.
Nach Angaben der Deutsch-Tunesischen Industrie- und Handelskammer (AHK Tunesien) sind insgesamt 280 deutsche Unternehmen vor Ort tätig, vor allem in den Branchen Textil und Bekleidung, Elektronik sowie Zulieferer für die Automobilindustrie. Der Bestand deutscher Direktinvestitionen betrug im Jahr 2008 157 Mio. Euro. Tunesien gilt als wettbewerbsfähiger Standort für die Produktion vor allem von Kfz-Teilen und -Zubehör. Auch deutsche Hersteller von Maschinen verzeichneten 2010 wegen notwendiger Modernisierungen wachsende Lieferaufträge. Deutschland bezieht aus Tunesien vor allem Waren aus den Bereichen Textilien und Bekleidung, Elektrotechnik und Erdöl.
Noch aber ist der Wandel in Tunesien nicht abgeschlossen. Die Übergangsregierung, die innerhalb von drei Monaten Wahlen bewerkstelligen soll, steht heftig in der Kritik. Das klingt wie in zahlreichen anderen Fällen nach Unwägbarkeit. Und dennoch liegt der Fall Tunesien deutlich anders: Es ist die erste Revolution in einem islamischen Land, in dem – bis jetzt – keine radikalen religiösen Parolen skandiert werden. Und es ist eine Revolution aus eigenen Kräften und aus der Mittelschicht heraus, im wirtschaftlich am weitesten entwickelten Land Nordafrikas. Es waren dementsprechend vor allem die vergleichsweise breite tunesische Mittelschicht sowie die jungen Menschen, die den Umsturz vollzogen. Völlig zu Recht spricht deswegen der Nahost-Experte und Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, davon, dass „Tunesien reif für die Demokratie“ sei.
Nun muss ein Prozess stattfinden, den man mit einer „De-Ben-Alisierung“ der Wirtschaft umschreiben könnte. Das bedeutet, dass – nachdem die Pfründe, die Ben-Alis Verwandtschaft vor allem in den Bereichen Großhandel, Bankwesen und Immobilien innehatte, abgeschafft wurden – nun eine neue faire Wettbewerbsordnung errichtet werden muss. Das kann aber nur in einem demokratischen Tunesien funktionieren.
Sicher ist, dass es mit dem Sturz des alten Regimes auch neue Impulse für die tunesische Wirtschaft geben wird. Zu rechnen ist mit einer erhöhten Investitionsbereitschaft von tunesischen Unternehmen, die – im Unterschied zu ausländischen Firmen – die Leidtragenden der Bereicherung des herrschenden Familien-Clans waren. Für tunesische Unternehmen ergeben sich nun ganz neue Freiheitsgrade; das wird der gesamtwirtschaftliche Entwicklung – und damit auch den Interessen der deutschen Unternehmen in Tunesien – nützen.
Der Industrialisierungsgrad und die Mehrwertschöpfung pro Kopf im produzierenden Gewerbe sind in dem südlichen Mittelmeeranrainer im regionalen Vergleich mit Abstand am größten. Zu den wichtigsten Standortfaktoren Tunesiens zählen auch qualifizierte Arbeitskräfte, eine leistungsfähige Infrastruktur und die geographische Nähe zu Europa. Es ist unwahrscheinlich, dass die guten Investitionsbedingungen für ausländische Unternehmen aufs Spiel gesetzt werden.