Gewerkschaften und Oppositionsparteien beklagen Niedriglohnjobs seit langem als menschenunwürdige Beschäftigungen. Ihr wichtigstes Argument: Wer Vollzeit arbeite, müsse davon leben können. Befürworter von Niedriglöhnen argumentieren wiederum, dass die Alternative für viele Niedrigentlohnte Arbeitslosigkeit bedeuten würde, weil viele niedrig entlohnte Arbeitsplätze sich bei höheren Löhnen nicht mehr rechnen würden. Niedriglohnjobs böten zudem noch eine reelle Chance, in höher entlohnte Jobs aufzusteigen. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) ging nun den Argumenten wissenschaftlich auf den Grund.
Das zentrales Ergebnis des von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) bauftragten Gutachtens: Der Niedriglohnsektor in Deutschland war tatsächlich bereits für Millionen Menschen der Einstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung.
Laut Studie steigen jährlich 24,1 % aller Geringverdiener in den Normalverdienerstatus auf. Einen Abstieg durchlaufen lediglich 4,8 %. INSM-Geschäftsführer Hubertus Pellengahr: „Sogenannte Niedriglöhne sind in Deutschland für viele Menschen vor allem eines: Einstiegslöhne!“ Das Gutachten belege damit auch die Schädlichkeit von Mindestlöhnen, so Pellengahr weiter. „Mindestlöhne verhindern nicht nur den Einstieg in den Arbeitsmarkt, sondern auch den finanziellen wie sozialen Aufstieg.“
Das Gutachten bestätigt nicht nur Aufstiegschancen, sondern zeigt auch, dass der Niedriglohnsektor vor Armut schützt. Nur 16 % der Menschen in diesem Beschäftigungsbereich sind armutsgefährdet. Unter den Arbeitslosen beträgt die Rate dagegen 60 %. Pellengahr: „Das Gutachten zeigt: Das Armutsrisiko ist bei Arbeitslosen fast vier Mal so hoch wie bei den Geringverdienern, auch weil Jobs im Niedriglohnbereich häufig Zuverdienste zum Haushaltseinkommen sind.“
Die Angst der Mittelschicht vor einem Abrutschen in den Niedriglohnbereich ist laut Studie empirisch nicht haltbar. Zwar sei der Niedriglohnsektor in den vergangenen Jahren größer geworden, aber nicht auf Kosten der Normalverdiener. „Der Sektor der Normalverdiener – also der Beschäftigten mit einem Stundenlohn oberhalb der Niedriglohnschwelle von neun Euro – blieb vielmehr über den gesamten Beobachtungszeitraum relativ konstant bei rund 45 % der Erwerbsbevölkerung. In den vergangenen Jahren ist er sogar leicht angestiegen“, so Holger Schäfer, Wissenschaftler am Institut der deutschen Wirtschaft und Autor des Gutachtens. Schäfer weiter: „Per Saldo hat der Niedriglohnsektor neue, zuvor nicht existente Beschäftigungsgelegenheiten geschaffen.“
Darin enthalten sind auch neue Chancen für Ältere: „Die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes ist ein klarer Indikator dafür, dass wir noch stärker als bisher die Rahmenbedingungen für jene Generation von Erwerbstätigen stärken müssen, die man früher einmal ‚das alte Eisen‘ nannte“, so Hubertus Pellengahr. Der INSM-Geschäftsführer fordert deshalb die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für alle Altersgruppen auf maximal zwölf Monate zu beschränken. „Die Vergangenheit hat eindrücklich gezeigt, dass die vermeintliche Besserstellung von Älteren in Wirklichkeit zu ihrem Schaden ist, weil sie aussortiert wurden. Ältere werden aber auf dem Arbeitsmarkt gebraucht, sie haben Fähigkeiten, die Junge nicht haben: Erfahrung, Ruhe, Entscheidungskraft.“
Das Gutachten Der Niedriglohnsektor in Deutschland: Entwicklung, Struktur und individuelle Erwerbsverläufe des IW Köln steht per Download kostenfrei im Internet zur Verfügung. (Quelle: INSM/ml)