Nachdem Veranstaltungen und Messen virusbedingt reihenweise ausfallen, sucht nicht nur die Industrie nach Möglichkeiten, die Verluste auszugleichen. Die erste Option ist der Formatwechsel zur virtuellen Messe.
Virtuelle Messen nutzen die Möglichkeiten moderner Digitaltechnologie, um Aussteller und Interessenten zusammenzubringen. Das geschieht mit Livestreams, Videokonferenzen, 3D-Produktmodellen, Webinaren, Click-to-Chat– und Call-Back-Services. Ebenfalls wichtig: der Event-Charakter – im besten Fall ist das Erlebnis ähnlich wie das am Messestand in der Halle. Als Ersatz für die Nürnberger Fensterbau Frontale hat zum Beispiel das Geschwister-Start-up Enra aus Ostwestfalen für den Baubeschlaghersteller BaSys, ein Familienunternehmen aus dem lippischen Kalletal, in nur zwei Tagen einen virtuellen Messeauftritt gestaltet. Für Enra-Mitgründer und -Geschäftsführer Arne Farwick ist diese Entscheidung ganz logisch:
„Wenn der Kunde nicht zur Messe kommt, muss die Messe eben zum Kunden kommen.“
Ähnlich haben nach der LogiMAT-Absage 2020 u.a. das SAP-Beratungshaus itelligence sowie Torwegge, Jungheinrich und Toyota virtuelle Messestände aufgebaut; und genauso hat z.B. Balluff auf die Absage der Hannover Messe reagiert. Die Münchner Membrain GmbH präsentiert ihre SAP-Plattformfür Industrie 4.0 jetzt ebenfalls an einem virtuellen Messestand.
Der Ausstellungs- und Messe-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V. (AUMA) schätzt die Einbußen für die Gesamtwirtschaft auf 5,6 Millarden Euro. Den Schaden für die Messewirtschaft selbst beziffert der Bundesverband Industrie Kommunikation e.V. (BVIK) auf über 1,6 Milliarden Euro. Dem Verband zufolge macht das Messegeschäft in Normalzeiten rund 40 % des jährlichen Marketing-Budgets von Industrieunternehmen aus.
Für die etablierten Anbieter von Virtual-Fair-Lösungen wie EXPO-IP und Ubivent (meetyoo) kamen die Messeabsagen 2020 allerdings etwas plötzlich. Unterdessen spielen sich bereits kleinere und regionale Anbieter wie Völkel ITK oder eben Enra in den Vordergrund, auch Digitalagenturen wie GAL Digital sind auf den Markt aufmerksam geworden. Die Kommunikationsprofis von PR!ZM haben bereits gemeinsam mit La Concept einen Modulbaukasten namens Home Fair live entwickelt, der die Übersetzung einer bestehenden (oder neuen) Messekonzeption in virtuelle Online-Welten erleichtern soll.
In zweiter Reihe warten außerdem die 3D-Scan- und VR/AR-Anbieter (Virtual/Augmented Reality), die gerade dort einspringen, wo es darum geht, handfeste Produkte digital darzustellen. „Die 3D Modelle von Produkten können mit dem Smartphone oder Tablet per Augmented Reality z.B. in die eigene Produktionshalle gestellt und von allen Seiten betrachtet werden“, argumentiert z.B. Viality mit konkretem Bezug auf virtuelle Messen. Die revis3d GmbH aus Georgsmarienhütte hatte für Hannover 2020 sogar eine Messeteilnahme geplant. Dass ein virtuelles Hands-on enormen Reiz entwickeln kann, wenn man die Sache umkehrt und das virtuelle Erlebnis nicht „im Web“, sondern direkt und „immersiv“ beim Kunden stattfinden lässt, demonstrierte die New York Times bereits 2018 anhand der olympischen Winterspiele.
Und auch die Fachmedien möchten mitmischen: Vogel Communications hat am 10. März die Plattform industrial generation network gestartet, die dazu beitragen will, „Umsatzeinbrüche durch abgesagte und verschobene Live-Events und Messen teilweise zu kompensieren“ und mit digitalen Mitteln – Terminvereinbarung, Videokonferenzen und eben virtuellen Veranstaltungen – „einen großen Teil der Face-to-Face-Kommunikation von Messen und großen Konferenzen zu ersetzen“. Der Bundesverband Industrie Kommunikation e.V. (BVIK) bezweifelt jedoch, dass „virtuelle Messen denselben Erfolg erzielen werden wie reale Messen“.
„Anders als im Konsumgütergeschäft basiert die Industriekommunikation mit ihrer viel komplexeren Einkaufs- und Kundenstruktur auf vertrauensbildendem persönlichem Kontakt.“
Als wichtigstes Argument führt der BVIK ins Feld, dass der Messekalender bei vielen Industrieunternehmen den gesamten Biorhythmus bestimmt und „die Termine großer Leitmessen wichtige Meilensteine in Produktentwicklungszyklen von Industrieunternehmen darstellen“. Dieser Logik gemäß sind die meisten virtuellen Messestände Einzelaktionen von Unternehmen; Virtualisierungsgesamtkonzepte aufseiten der großen Messen stehen noch aus.