Der VDMA-Landesverband Bayern hat die Corona-Zeit gut genutzt und einen KI-Leitfaden für den Mittelstand erarbeitet. Es ist nicht der erste seiner Art, aber er hat den großen Vorteil, dass er direkt aus den praktischen Erfahrungen einer Gruppe von Unternehmen entstanden ist.
Zu den 13 Unternehmen der Projektgruppe gehören neben Größen wie Siemens und KraussMaffei etliche KI- bzw. Softwarespezialisten (asimovero.AI, iteratec, MVTec, The MathWorks GmbH und Xitaso) und die Systemhaussparte der Baumüller-Gruppe aus Nürnberg (Automatisierung) Baumüller Anlagen-Systemtechnik, außerdem die Industrieausrüster Deprag Schulz in Amberg (Druckluftwerkzeuge und Automation mit Schwerpunkt Schraubtechnik), Kiefel aus Freilassing (Maschinen und Anlagen für die Kunststoffverarbeitung, aber seit Kurzem auch Fiber Thermoforming), die Münchner Martin GmbH für Umwelt- und Energietechnik sowie die Chr. Mayr GmbH + Co. KG im schwäbischen Mauerstetten (Antriebstechnik). Wissenschaftlich begleitet wurde die Arbeit durch das Fraunhofer-Institut für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik IGCV und das Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) der TU München.
Der Praxisleitfaden geht so vor, wie vernünftige Firmen vorgehen; er beantwortet im Wesentlichen drei Fragen, und zwar mustergültig:
- „Künstliche Intelligenz“ – wovon reden wir da überhaupt?
- Was stellen denn andere Unternehmen mit künstlicher Intelligenz so an?
- Wie fange ich an, wenn ich herausfinden will, ob bei uns etwas Ähnliches funktionieren kann?
Der erste Teil klärt gut, verständlich und nach Möglichkeit auf Deutsch, was künstliche Intelligenz ist, woher sie kommt, was sie kann, was schwache und was starke KI ist und was das Besondere an maschinellem Lernen oder Deep Learning ist.
Nach einer Übersicht über die wichtigsten Einsatzfelder in der Industrie, geht es dann direkt in die Beispiele: überschaubare Skizzen von elf Anwendungsfällen zeigen, welche Schwierigkeiten KI lösen kann, von der Qualitätssicherung über Maschinen-Monitoring, Wissensmanagement, Anomalieerkennung, Fehlervorhersage und vorausschauende Wartung bis zu Robotik, Machine Vision und vollautomatisches Pick and Place. Stark vertreten sind auf diesen Seiten MathWorks und Siemens.
Interessant und für manche neu dürfte das Beispiel Softsensoren/virtuelle Sensoren sein: Wo physikalische Messgrößen nicht gut erfasst werden können, z.B. im Inneren einer Maschine, lassen sich die Werte doch aus der Korrelation von anderen Messgrößen mit geeigneten KI-Methoden realistisch extrapolieren. Wer von hier aus weiterdenkt, landet direkt bei digitalen Zwillingen (Digital Twins). Siemens ist es auf diese Weise gelungen, betriebssynchron die Temperaturen in einem Motor zu schätzen und damit Stillstandszeiten durch Überhitzung zu vermeiden (Anwendungsfall 4).
Der dritte Teil setzt nicht ganz bei der Frage an, wer die Kärtchen für den Kreativworkshop zur Ideenfindung besorgt, aber doch fast auf dieser praktischen Ebene. Vom Business Model Canvas geht es zu Datenverfügbarkeit, -menge und -qualität, mit einem Seitenblick auf rechtliche und ethische Grenzen künstlicher Intelligenz. Die Umsetzung wird dann in acht Phasen beschrieben, vom Geschäfts- und Projektverständnis über die Datenvorbereitung (den „Rohbau“) und die Modellierung bis zu Bereitstellung und Wartung; ein Abschnitt zur Projektdokumentation mit entsprechender Vorlage beschließt den Hauptteil.
Gut ist, dass der Leitfaden zu jeder Phase die entscheidenden Fragen ausformuliert („Muss das Modell erklärbar sein?“, „Wie sicherheitsrelevant sind die Modellentscheidungen?“, „Wie kann die Zuverlässigkeit des Modells getestet werden?“ etc.) und an der Seite die jeweils relevanten Stakeholder markiert. Die Darstellung gelangt dabei freilich notgedrungen auch auf höhere Abstraktionsebenen, bleibt aber dennoch „einfach für das Unternehmen zugänglich und überaus praxistauglich“, wie Guido Reimann sagt, der im VDMA der KI-Koordinator ist. Da hat er recht. Der Leitfaden ist als erste Wahl für alle diejenigen zu empfehlen, die tatsächlich Nägel mit KI-Köpfen machen wollen – und nicht nur etwas Auskennerei für die nächste Sitzung suchen (und selbst die sind mit den Begriffserklärungen als Spickzettel bestens bedient).
Den „Leitfaden Künstliche Intelligenz – Potenziale und Umsetzungen im Mittelstand“ (52 Seiten) gibt es beim VDMA-Landesverband Bayern komplett frei als PDF zum Download.