Burn-out im Bällebad
Von David Schahinian
Programmierer sind Organismen, die Koffein in Code verwandeln: Ein gut abgehangener Spruch der Branche, der es – wie so viele andere mehr oder weniger amüsante Sprüche auch – sogar auf T-Shirts geschafft hat. Das Selbstverständnis vieler Coder und ihrer Arbeit- oder Auftraggeber ist aber längst ein anderes. Und das aus gutem Grund. Vor wenigen Jahrzehnten gab es den Berufszweig in dieser Form noch nicht, und wer jung einstieg, kokettierte nicht selten mit dem rasanten Zuwachs an Ansehen und dem Touch des Geheimnisvollen, der das Programmieren einst umwehte. Mittlerweile merken immer mehr von ihnen, dass sie ihren Beruf kaum bis ins Rentenalter ausüben können, wenn sie bereits in jungen Jahren Raubbau am eigenen Körper betrieben haben. Hinzu kommt, dass mittlerweile mehrere Studien zeigen, dass jüngere Generationen ein größeres Bewusstsein für die Gesundheit entwickelt haben und ihnen Geld oder Image weniger wichtig sind als noch ihren Vorgängern.
Wenig Arbeitsschutz in der IT
Trotzdem wird der Arbeitsschutz in der IT immer noch unterschätzt. Dabei gehören Programmierer gerade zu den Gruppen, die besonders im Fokus stehen sollten: Ihre Arbeit geht gemeinhin mit einem geringen Bewegungsradius, viel Sitzen und nicht selten auch mit erheblichem Stress einher. Von einer gesunden Ernährung ganz zu schweigen, wenngleich wir das Klischee des Koffeinjunkies nicht auch noch auf Pizzakartons ausweiten wollen. Die damit verbundenen Risiken liegen auf der Hand: Körperlich sind das beispielsweise Rückenschmerzen, gerötete oder trockene Augen, Kopfschmerzen, Verspannungen oder übermäßige Belastungen von Händen, Armen, des Nackens und der Schultern. Mindestens ebenso riskant sind psychische Leiden wie Reizbarkeit oder Konzentrationsstörungen, die bis zu einem Burn-out führen können.
Oder zu einem Nervenzusammenbruch – wie ihn Roland Golla erlebt hat. Seitdem setzt sich der Webdeveloper für Arbeitsschutz in der IT ein. Im Blog seiner Initiative „Never Code Alone“ hat er seine persönliche Geschichte ausführlich geschildert. Der Tropfen, der das Fass bei ihm zum Überlaufen brachte, war eine Mischung aus Termindruck, einmal mehr drohender Wochenendarbeit, fehlenden Ressourcen und fordernden Vorgesetzten. Eine Situation also, wie sie durchaus häufiger vorkommt. Er schmiss seinen Job mit sofortiger Wirkung hin und begann eine Therapie.
IT-Fachkräfte stehen täglich unter starkem digitalen Stress und leiden besonders häufig an psychischen Beeinträchtigungen oder Erkrankungen des Bewegungsapparats. (Bild: statista)
„Was in der Industrie schon lange Standard ist, findet allerdings in der IT sehr wenig Beachtung“, so Golla: Hier fehle es an Aufklärung zum Thema und auch an einer nachhaltigen Führung. Und weiter: „Hoher Druck, fehlendes Know-how und schlechte Softwarequalität sind die Rahmenbedingungen, die leider nicht mit Bällebad und Club Mate kompensiert werden können.“ Sein Fazit, gespeist aus der persönlichen Erfahrung, klingt alarmierend, ist aber nachvollziehbar: „Der Kurs, den man gegangen ist, kennt einfach keinen Sieger.“
Klare Gesetzeslage
Golla ist nicht der Erste, nicht der Einzige und leider wohl auch nicht der Letzte, der mehr Bewusstsein für dieses Thema einfordert. Developer Jeremy Kratz hatte zuvor bereits in einem ebenfalls sehr beachteten Blogpost das Problem aus seiner Sicht umrissen. Nach seinem Burn-out schrieb er, dass viele Entwickler sich als eher introvertiert bezeichnen und es ihnen schwerfällt, über ihren emotionalen Zustand zu sprechen. Das führe nicht selten dazu, dass sie ihn ignorieren oder glauben, allein betroffen zu sein. „Diese Isolation verstärkt nur das Gefühl der Hilflosigkeit. Sie befürchten, dass sie, wenn sie ihren Stress oder ihre Unzufriedenheit zugeben, ihre Kollegen im Stich lassen oder, noch schlimmer, als inkompetent oder faul angesehen werden.“
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazinreihe „IT & Karriere“ erschienen. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Dem Gesetzgeber in Deutschland kann man allerdings kaum mangelnde Regelungen zum Arbeitsschutz vorwerfen. Es gibt eine Menge rechtlicher Vorgaben, die die Gesundheit der Arbeitnehmer schützen sollen. Ihre Einhaltung müsste eigentlich auch im Interesse der Arbeitgeber liegen, denn nur motivierte und gesunde Mitarbeiter sind auch kreativ, produktiv und belastbar. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt für Programmierer leer gefegt ist. Wer sich früher vielleicht noch einiges gefallen ließ, kann heute schnell zu einem neuen Arbeitgeber wechseln, der seine Mitarbeiter eher wertzuschätzen weiß.
Daher sollte man bei Missständen – sofern möglich – zuerst das Gespräch mit den Chefs suchen, bevor gleich übergeordnete Instanzen wie das Gewerbeaufsichtsamt eingeschaltet werden. Fehlt die Offenheit für ein Gespräch, kann möglicherweise ein Wink mit einem neueren Gerichtsurteil in der Schweiz helfen. Dort verklagte eine Beamtin ihren Arbeitgeber, den Staat, auf Schadenersatz, weil er für ihren Burn-out verantwortlich gewesen sein soll. Das Bundesverwaltungsgericht stellte schließlich fest, dass der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht verletzt habe und grundsätzlich dafür aufkommen müsse.
Arbeitgeber haben eine Fürsorgepflicht
Beim Regelwerk in Deutschland ist allen voran das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) zu nennen. Es sieht unter anderem eine Gefährdungsbeurteilung des Arbeitgebers vor, aus deren Ergebnis Maßnahmen des Arbeitsschutzes abgeleitet werden sollen. Hierzu muss er nicht jeden einzelnen Arbeitsplatz unter die Lupe nehmen, sondern kann nach Art der Tätigkeiten gruppieren. Zu prüfen sind unter anderem Gefährdungen durch die Gestaltung und die Einrichtung des Arbeitsplatzes, durch die Auswahl und den Einsatz von Arbeitsmitteln oder durch unzureichende Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten. Mit dem rasanten Anstieg der Krankschreibungen aufgrund von psychischen Leiden in den vergangenen Jahren wurden zudem auch solche Belastungen in das Gesetz aufgenommen. Gleichwohl sind auch die Beschäftigten verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit Sorge zu tragen.
Hinzu kommen spezifischere Regelungen wie das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) oder die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV). Letztere legt unter anderem fest, dass Arbeitsstätten „so eingerichtet und betrieben werden, dass Gefährdungen für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten möglichst vermieden und verbleibende Gefährdungen möglichst gering gehalten werden“.
Eine Herausforderung solcher Vorgaben ist, dass sie meist recht allgemein gehalten sind. Zudem mahlen die Mühlen des Gesetzgebers und der Justiz mitunter recht langsam. Programmierer arbeiten dagegen überdurchschnittlich häufig in modernen Unternehmen, die neuen Technologien und Arbeitsmethoden gegenüber aufgeschlossen sind. Auf sie lassen sich manche bisher gültigen rechtlichen Regelungen aber nur bedingt übertragen. Gesucht sind also eher praktische, manchmal auch pragmatische Lösungen.
Ratgeber zum Download
Die baua-Broschüre „Flexible Arbeitszeitmodelle. Überblick und Umsetzung“ ist 2019 in 2. Aufl. erschienen. Das 65 Seiten starke Handreichung bekommt man bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kostenfrei als PDF zum Download. (Bild: baua)
An den richtigen Stellschrauben drehen
Eine menschenfreundliche Unternehmenskultur und ein funktionierendes betriebliches Gesundheitsmanagement leisten hier eindeutig Abhilfe, können aber nur mittel- bis langfristig umgesetzt werden. Entspannungstechniken und die Fähigkeit, Nein zu sagen, helfen oftmals individuell weiter, brauchen aber ebenfalls Zeit, bis sie erlernt und in Fleisch und Blut übergegangen sind. Flexiblere Arbeitszeitmodelle dagegen können häufig auch kurzfristig umgesetzt werden und in vielen Situationen schon für eine erste Entlastung sorgen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www.baua.de) hat eine kostenfreie Broschüre veröffentlicht, in der sie zeigt, welche Modelle es gibt und wie sie sich realisieren lassen.
Roland Golla hat weitere gute Ideen. Dazu zählen qualitativ hochwertige Schreibtischstühle, die Rückenschmerzen minimieren helfen können, sowie Steharbeitsplätze, die zu mehr Bewegung anregen. Darüber hinaus plädiert er dafür, Code automatisiert testen zu lassen und in die dafür erforderliche Infrastruktur zu investieren. Andernfalls werde den Entwicklern sehr viel Druck zugemutet, da die alleinige Verantwortung, dass alles richtig läuft, sonst immer bei ihnen liege. Wird ein Bug erst später gefunden, fällt der Mehraufwand auf die Entwickler zurück, was nicht nur Zeit und persönliches Vertrauen kostet: „Daraus können sich Versagens- und Existenzängste entwickeln. Automatisierte Deployments sind hier elementar.“
Meine Gesundheit ist mir wichtig
Zu guter Letzt muss die Selbstverantwortung der Programmierer nochmals hervorgehoben werden. Dazu gehört, Probleme anzusprechen, wenn sie auftauchen, sowie die eigenen Grenzen zu erkennen und zu kommunizieren. Wer einen stressigen Job hat, diesen aber gerne ausübt, kann zudem auch persönlich viel für sein Wohlergehen und zur Prävention tun. Dazu gehören regelmäßige Bewegung und gesunde Ernährung – auch wenn es manchem Coder zunächst schwerfallen könnte, sich selbst darauf umzuprogrammieren.
David Schahinian arbeitet als freier Journalist für Tageszeitungen, Fachverlage, Verbände und Unternehmen. Nach Banklehre und Studium der Germanistik und Anglistik war er zunächst in der Software-Branche und der Medienanalyse tätig. Seit 2010 ist er Freiberufler und schätzt daran besonders, Themen unvoreingenommen, en détail und aus verschiedenen Blickwinkeln ergründen zu können. Schwerpunkte im IT-Bereich sind Personalthemen und Zukunftstechnologien.