Bionik: Was dem Automobilbau mit Kieselalgen leichter fällt

Das Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut bringt auf die Hannover Messe eine Reihe neuer Leichtbau-Konstruktionen mit, darunter eine Autofelge nach dem Vorbild der Arachnoidicus-Schalenstruktur. Die Baupläne dazu haben die Bionik-Forscher aus dem Meer: von Strahlentierchen und anderem Plankton.

Felgen funktionieren wie Algen

Von Friedrich List

Zurzeit ist der Leichtbau einer der starken Innovationstreiber in der Industrie. Denn die Verbindung von möglichst großer Steifigkeit und Festigkeit bei zugleich möglichst sparsamem Einsatz von Material und Energie wird nicht zuletzt von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorgegeben. Meeresforscher des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts für Meeres- und Polarforschung (AWI) schlagen nun einen ungewöhnlichen Weg ein: den der Bionik – technische Leichtbaukonstruktionen nach Vorbildern aus der Meeresbiologie.

Vorbilder aus den Ozeanen

Die Wissenschaftler aus Bremerhaven erforschen dabei die winzigsten Meeresbewohner – Strahlentierchen, Kieselalgen und anderes Plankton. Diese Kleinstlebewesen leben in unüberschaubarer Vielfalt in den Ozeanen und schützen sich durch filigran konstruierte Schalen, Panzer oder Skelette vor Fressfeinden und Wasserdruck. Und da sie gleichzeitig zu den ältesten Lebensformen auf unserem Planeten überhaupt gehören, finden Forscher bei ihnen eine Unzahl von bewährten Konstruktionen, die bereits viele Stadien der Selektion durchlaufen haben.

Sich von Einzellern und mikroskopisch kleinen Schalentierchen inspirieren zu lassen, erschien dem Team um AWI-Forscher Dr. Christian Hamm daher naheliegend. „Die Nutzung von biologischen Strukturen, die bereits durch die Natur optimiert wurden, führt unter Umständen zu anderen und besseren Ergebnissen als der Versuch, solche Formen am Computer zu konstruieren“, sagt Hamm. Seine Arbeitsgruppe hierfür ein spezielles Verfahren erarbeitet und patentieren lassen: EliSE (Evolutionary Light Structure Engineering). Damit übertragen die Forscher Konstruktionen der Natur in industrielle Leichtbaustrukturen. Auf der Hannover Messe 2015 stellen sie ELiSE erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vor (Halle 2, Stand A01).

Wie man sich ELiSE vorstellen darf, erklärt ein YouTube-Video anhand der Unterbaukonstruktion für Windkraftanlagen im Meer.

In fünf Schritten zur Konstruktion

EliSE sieht mehrere Entwicklungsschritte vor. Zunächst muss das Problem möglichst präzise erfasst und verstanden werden. Im nächsten Schritt, dem sogenannten Screening, suchen die Forscher in ihren Datenbanken nach geeigneten Kandidaten. „Wir kennen uns sehr gut mit den Panzern von Plankton aus“, sagt Christian Hamm, „sie sind leicht und stabil, und es gibt eine unendliche Vielfalt von Lösungen.“ Das Team untersucht, welche natürlich gewachsene Konstruktion sich am ehesten auf das Problem übertragen lässt. Üblicherweise nehmen die Wissenschaftler mehrere Vorbilder, unter denen sie im Folgeschritt den geeigneten Kandidaten herausfiltern. So entstehen die Grundlagenmodelle für den nächsten Schritt.

In dieser Optimierungsphase passen sie das bionische Bauteil gezielt an seine Aufgabe an. Auch in dieser Phase sind noch konkurrierende Modelle im Spiel, die in einer Art simulierter Evolution ausgesondert und weiterentwickelt werden. Ist das optimale Konzept gefunden, wird es in der letzten Phase produktionsfähig gemacht.

„Wir haben dieses Verfahren bereits auf Teile von Waschmaschinen, auf Getriebe und auf Komponenten aus der Luft- und Raumfahrt angewendet“, erklärt Hamm. Im Prinzip eignet sich ELiSE nach seiner Einschätzung für die meisten Komponenten im Maschinenbau, im Automobilbau, im Bau von Werkzeugmaschinen und im Flugzeugbau.

Strahlentierchen inspiriert Windkraftanlage

Und tatsächlich steckt gerade in den kleinsten Konstruktionen der Natur eine beeindruckende Leistungsfähigkeit. Die Schalen und Panzer von Strahlentierchen müssen z.B. sowohl den hohen Wasserdruck aushalten als auch im Wasser schweben können. Messungen haben ergeben, dass diese Silikatschalen umgerechnet Kräfte von bis zu 700 t/m² aushalten können.

ELiSE hat bereits zu greifbaren Ergebnissen geführt. So lieferte das dreistrahlige Silikatskelett des Strahlentierchens Clathrocorys teuscheri das Vorbild für dreibeinige Fundamente von Windkraftanlagen, die im offenen Meer ihren Platz finden. Mit dieser Konstruktion senkten die Entwickler das Gewicht von zuerst 770 t auf 400 t – ohne dabei die Stabilität zu beeinträchtigen. Im Ergebnis ist das eine Gewichtsersparnis von 48 %. Zurzeit prüfen Fachleute, ob das sparsame Dreibein in Serie gehen soll.

Bereits in Serie produziert wird eine nach dem Vorbild einer Kieselalge entworfene Autofelge. Sie besteht aus Faserverbundwerkstoffen und ist um 20 % leichter als herkömmliche Felgen. Unter den bisher entstandenen Designs sind zudem ein Leichtbaurumpf für Renn-Jachten und ein modular aufgebauter Pavillon.

Fazit: Angewandte Forschung für die Industrie

Christian Hamm selbst forscht bereits seit über zehn Jahren an bionischen Konstruktionen. Im Laufe der Jahre wuchs seine Arbeitsgruppe, sodass sie heute 14 Leute umfasst. Das Team ist interdisziplinär zusammengesetzt; Meeresbiologen sind dabei, Paläontologen, aber selbstverständlich auch Ingenieure. Für die Zukunft ist eine Ausgründung geplant, die Aufträge aus der Industrie annehmen soll, während das Kernteam am AWI sich weiter eher mit der Grundlagenforschung beschäftigt.

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Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

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