Effizienz ist K.o.-Kriterium
Von Friedrich List
Bereits jetzt hat die Digitalisierung unser Leben und unsere Arbeitswelt massiv verändert. Dabei sind viele technische Neuerungen noch gar nicht so alt. Das inzwischen allgegenwärtige Smartphone kam erst 2009 nach Deutschland; Apple hatte zwei Jahre vorher sein erstes iPhone vorgestellt. Big Data, das Internet der Dinge, Maschinenintelligenz, aber auch neue, digitale Vertriebsmodelle treiben den Wandel weiter voran. Zudem zeigen inzwischen zahlreiche gelungene Beispiele, dass eine überlegte Digitalisierung sich für Unternehmen auszahlt.
Chancen aus der Transformation
Die Vorteile liegen im Moment überwiegend im Bereich von Kostensenkungen und Produktivitätssteigerungen. Das ergab eine im März 2018 veröffentlichte Studie der Managementberatung Horvath & Partners. Das Beratungsunternehmen ließ rund 200 Entscheider im deutschsprachigen Raum in verschiedenen Branchen befragen. Während Einsparungen und Effizienz von fast allen genannt wurden, verzeichneten 52 % bereits erste Umsatzsteigerungen. In puncto Kosten und Produktivität kommen die erfolgreichsten Beispiele aus den Bereichen IT, Logistik/Supply Chain, Produktion und Vertrieb. An erster Stelle unter den konkreten Verbesserungen standen bessere Kundenbeziehungen: Die Unternehmen lernen die Bedürfnisse ihrer Kunden genauer kennen und können sie wesentlich besser erfüllen. An zweiter Stelle stehen Zeitvorteile durch beschleunigte Produktions- und Lieferzeiten.
Das Produktportfolio allerdings scheint bei den meisten Anbietern unverändert zu sein. Nur 37 % vertreiben nach dem digitalen Wandel andere Produkte als vorher. Weniger als die Hälfte finden ein neues Erlösmodell, erschließen neue Zielmärkte oder neue Kundensegmente. Die Umfrage lässt insgesamt darauf schließen, dass es Unternehmen zwar leicht fällt, aus der Digitalisierung konkrete betriebswirtschaftliche Vorteile zu ziehen; tiefer gehende Veränderungen, die in Arbeits-, Produktions- und Lieferprozesse eingreifen, fallen schon schwerer. Dasselbe gilt für radikal neue Geschäftsmodelle, Innovationsverfahren oder Managementmethoden.
Hier geraten Traditionsunternehmen oder größere Firmen mit etablierten Organisationen (die gar nicht notwendigerweise überholt sind) schnell ins Hintertreffen gegenüber Start-ups, die sich disruptiv verhalten und auf gewachsene Strukturen keine Rücksicht nehmen müssen. Allerdings begreifen viele Unternehmen die Digitalisierung mittlerweile als Chance, nicht als drohenden Vorboten einer heraufziehenden Katastrophe. Sie nutzen die neuen Möglichkeiten, um sich neu aufzustellen. Und das häufig mit Erfolg. Fallbeispiele dafür finden sich in allen Branchen.
Das größte automatische Retourenlager der Welt steht in Haldensleben und gehört zum Hermes-Fulfilment-Versandzentrum der Otto Group. (Bild: Otto GmbH & Co KG)
Vom Otto-Versand zum Digitalhandel
So hat der Hamburger Versandhändler Otto den Weg vom klassischen Paketgeschäft zur Online-Plattform eingeschlagen. Das sichtbarste Zeichen ist wahrscheinlich das Verschwinden des telefonbuchdicken Otto-Katalogs, an dessen Stelle die schon länger existierende Website tritt. Das Unternehmen will bis zum Ende des Geschäftsjahres 2018 um die 100 Millionen Euro in die Digitalisierung investieren. Kernstück der Plattformentwicklung ist das Portal Brand Connect. Dort will Otto alle für Markenanbieter wichtigen Prozesse zusammenfassen, also beispielsweise Bewirtschaftung, Operations oder Analytics. Die Otto-Partner können auf der Plattform eigene Shops einrichten und dann Parameter wie Zugriffe auf den Shop oder Verkaufszahlen in Echtzeit überwachen. Partner und Kunden sollen zudem die Möglichkeit bekommen, Services wie Finanzierung oder Logistics direkt zu buchen.
Zusätzliche Mittel investiert das Unternehmen in Technologielösungen, die das Einkaufserlebnis der Kunden verbessern sollen. Dazu gehört zum Beispiel die Otto Augmented Reality App, die Kunden eine VR-Raumplanung ermöglicht. Sie können sich 3D-Abbilder neuer Möbel in die eigene Wohnung projizieren und sehen so besser, ob die Stücke zum Rest der Einrichtung passen. Auch an einem Tool für 360-Grad-Panoramabilder wird gearbeitet. Otto trägt damit der weiter wachsenden Popularität des Online-Handels Rechnung. Gerade die Jüngeren kaufen bevorzugt online und mobil ein und lassen den stationären Einzelhandel links liegen.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Magazinreihe „IT-Unternehmen stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Aviatar bei Lufthansa Technik
Auf den ersten Blick scheint Lufthansa Technik, weltweit operierender Spezialist in Sachen Wartung und Instandhaltung von Flugzeugen, der seine Basis in Hamburg hat, mit dem Versandhandel wenig zu tun haben. Aber auch Lufthansa Technik hat sich in den letzten Jahren neu aufgestellt, um in seinem angestammten Geschäftsfeld weiter bestehen zu können.
Um die Betriebsabläufe effektiver zu machen und die Mitarbeiter zu entlasten setzt Lufthansa Technik auf das Internet der Dinge. Das jüngste Projekt aus einer ganzen Reihe von Lösungen ist Aviatar, ein digitaler Zwilling für jedes Flugzeug, das das Unternehmen wartet. Dabei wird beispielsweise ein Airbus in allen Bestandteilen, vom Steuerhorn im Cockpit über die Leselampen in der Kabine bis hin zu jeder einzelnen Schraube am Fahrwerk, digital nachgebildet und mit dem Original verknüpft.
In diesem digitalen Aviatar-Doppelgänger, der Verbindung von Aviation und Avatar, sind alle Standards hinterlegt, die die einzelnen Komponenten erfüllen müssen, damit das Flugzeug fliegen darf. Im Original platzierte Sensoren und andere Messinstrumente senden laufend Zustandsdaten an den digitalen Zwilling. Dadurch können Lufthansa-Techniker ständig verfolgen, in welchem Zustand die Maschine und ihre Systeme sind. Störungen lassen sich auf diese Weise frühzeitig erkennen und beheben. Zudem erlaubt Aviatar auch Prognosen zur Wahrscheinlichkeit von Störungen und zum Verschleiß von einzelnen Komponenten über den gesamten Lebenszyklus hinweg.
Eine Einführung macht mit Chancen und Risiken vertraut; dazu gibt es gleich die ersten Beispiele: Otto in Hamburg, Lufthansa Technik und Viessmann in Berlin. Danach geht der Blick Richtung Nordrhein-Westfalen zu Henkel und Grohe, aber auch zu Hidden Champions wie der Harting-Gruppe. In Bayern sind Jungheinrich, die Wenzel Group, Lamilux und natürlich KUKA gute Beispiele, in Baden-Württemberg Firmen wie Festo und Trumpf. Der Blick über den Tellerrand nach Österreich zeigt, dass dort Namen wie Erema, Radel & Hahn und LiSEC, aber auch Red Bull digital erfolgreich unterwegs sind. Auf die Chancen der Digitalisierung geht dann Matthias Meyer genauer ein, der Beispiele aus den Bereichen Big Data, Augmented und Virtual Reality sowie Open Innovation nennt. Eher in Richtung Disruption geht das Digitalisierungsinterview, das wir mit Andreas Franken geführt haben; mit ihm haben wir außerdem über die Folgen für den Arbeitsmarkt gesprochen. Weitere Gastbeiträge behandeln das Thema aus der Perspektive von Marketing und Vertrieb, Kundendienst, Logistik, Baubranche und Gastronomie sowie Kommunikationstechnologie. Nicht zuletzt steht auch die Digitalisierung der Energiewende an.
Software für vorausschauende Wartung
Obwohl zurzeit noch geklärt werden muss, wem die Daten, die Aviatar liefert, eigentlich gehören, eröffnen sich hier auch Möglichkeiten für neue Geschäftsmodelle, vor allem solche, die den Betrieb Richtung Servicegeschäft öffnen: Dasselbe Prinzip am unteren Ende der Skala setzen zum Beispiel Haustechniker um, in deren Klimaanlagen vernetzte Sensorik warnt, wenn die Lüftung verstopfen droht. Bei Lufthansa Technik geschieht das im großen Stil – und mit intelligenter Software-Unterstützung: Condition Analytics heißt die datengetriebene Anwendung, die Lufthansa Technik zusammen mit Kunden entwickelt hat. Sie überwacht den Ist-Zustand der Flugzeugflotte eines Kunden und prognostiziert auch den zukünftigen Wartungs- und Instandhaltungsbedarf. Das System liefert also nicht nur Daten über den aktuellen Zustand, sondern sieht auch den Ausfall einer Komponente voraus. Dadurch kann sie ausgetauscht werden, bevor die Störung tatsächlich eintritt und das Flugzeug längere Zeit wegen Reparaturen stillgelegt werden müsste.
Condition Analytics nutzt dabei Daten, die bereits jetzt von den Systemen der Flugzeuge geliefert werden. Ein Team aus Data Scientists und Ingenieuren nimmt die Daten unter die Lupe und entwickelt einen sogenannten Use Case, der die Funktionalität des Flugzeugs und seiner Systeme dokumentiert. Auf dieser Grundlage wird das Flugzeug dann durchgecheckt, und der Kunde erhält die Ergebnisse.
Lufthansa Technik Logistik Services haben auf ein weitgehend automatisiertes Digital-Warehousing-System umgestellt. (Bild: Deutsche Lufthansa AG)
AutoStore und Digital Warehousing
Auch das Tochterunternehmen Lufthansa Technik Logistik Services (LTLS) geht neue Wege. Das Unternehmen hat ein Digital-Warehousing-Programm aufgelegt. Das Projekt erfasst sämtliche Unternehmensbereiche. Ziel ist, alle grundlegenden Prozesse zu digitalisieren, zu automatisieren und miteinander zu vernetzen. Pilotstandort ist der Münchener Großflughafen; allerdings werden andere Airports wie etwa Frankfurt und Hamburg, folgen. LTLS testet im Rahmen dieses Projekts digitale Assistenzsysteme, fahrerlose Transporter und Lokalisierungstechnologien. Außerdem sucht das Unternehmen die Zusammenarbeit mit Start-ups. So führt es gerade den smarten Datenhandschuh von Proglove und ein autonomes Transportfahrzeug von Agilox ein.
Denn lange Transportwege sind ein neuralgischer Punkt. Nicht zuletzt wegen der Größe moderner Passagierflugzeuge und der Vielzahl der in ihnen verbauten Komponenten erfordert Flugzeugwartung weitläufige Werkhallen und Lagereinrichtungen. Das führt zu langen Laufwegen für die Mitarbeiter und langen Transportwegen für die einzelnen Teile. Schon seit 2015 nutzt LTLS deswegen das automatische Blocklagersystem AutoStore. Dadurch konnte die Zahl der Ein- und Auslagerungen erhöht und mehr als 50 % Lagerfläche eingespart werden. Agilox verbessert nun die Prozesse weiter und bringt die benötigte Komponente direkt zum Mitarbeiter an den Arbeitsplatz.
Der Proglove-Datenhandschuh wiederum integriert einen 2D-Scanner, sodass Mitarbeiter die Hände frei behalten. Das erleichtert auch die Dateneingabe, wenn Waren ins Lager kommen oder herausgegeben werden. Ein verbesserter Handschuh mit integriertem Display ist bereits in der Erprobung. Darüber hinaus führt Lufthansa Technik auch Lösungen wie selbstlernende Roboter, 3D-Drucker und Drohnen etwa zur Halleninspektion oder zum Inspizieren großer Flugzeuge ein.
Das 2017 eröffnete Technikum ist, so Martin Viessmann, als „Keimzelle für Innovationen für die Energiewende und im Bereich der Digitalisierung“ gedacht. (Bild: Viessmann Werke)
Viessmann im Co-Creation-Space
Was große Konzerne können, schaffen auch mittelständische Unternehmen. Der bekannte Heizungsbauer Viessmann ist ein in Berlin ansässiges Familienunternehmen mit 12.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 2,4 Milliarden Euro. Die rund 100 Jahre alte Firma investiert mit Blick in die Zukunft und betreibt eigenständig Forschung und Entwicklung.
Viessmann setzt bei seinem Aufbruch in die digitale Zukunft auf die Nähe zu kreativen Start-up-Firmen und stellt selbst einen Inkubator für sie auf die Beine: Im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg hat Viessmann eine frühere Schuhfabrik gekauft und errichtet dort nicht einfach einen neuen Standort, sondern auf zwei Stockwerken einen Co-Creation-Space für andere Mittelständler und Start-ups. Anfang 2018 übernahm Juniorchef Max Viessmann die operative Führung von seinem Vater Martin Viessmann. Beide sind sich in dem Ziel einig, von der einzigartigen Konzentration von Talenten und Ideen in Berlin profitieren zu wollen. Der Senior sagte der Zeitschrift Gründerszene, er sehe im Generationswechsel „die einmalige Chance auf einen strategischen und kulturellen Entwicklungssprung.“
Max Viessmann sieht die Zukunft geprägt vom Klimawandel und von der weiter wachsenden Verstädterung. „70 % der Menschen werden 2030 in Städten leben“, sagte Max Viessmann. Das stellt besondere Herausforderungen an die Gebäudetechnik, die sich wohl nur im Zusammenspiel von tradiertem Fachwissen, über Jahrzehnte aufgebautem Know-how und innovativen Ideen lösen lassen. Viessmann will den Co-Creation-Space nutzen, um technologisch getriebene Ideen zu verwirklichen. Start-ups kommen dann ins Spiel, wenn es um neue Geschäftsmodelle geht, die an alte anschließen. Ein Produkt dieser Zusammenarbeit ist Cary Services, ein smartes Schlüsselsystem für Wohnungen. Damit können die Bewohner ausgewählten Personen und Dienstleistern wie Putzkräften oder Handwerkern kontrolliert Zugang zur Wohnung geben.
Im eigenen Unternehmen sorgte Viessmann unterdessen für kürzere Kommunikationswege. Dokumente liegen in der Google Cloud und können dort im Team bearbeitet werden. Mitarbeiter nutzen nun den Instant-Messaging-Dienst Slack, um sich abzustimmen und das Online-Tool Asana für das Projektmanagement. Alle vier Wochen findet ein Videostream statt, in dem sich Mitarbeiter aus den 74 Märkten des Unternehmens austauschen.
Friedrich List ist Journalist und Buchautor in Hamburg. Seit Anfang des Jahrhunderts schreibt er über Themen aus Computerwelt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raumfahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Internationalen Raumstation. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.