In sechs Schritten zur IT-Wirtschaft
Von Friedrich List
Für viele Experten und Verantwortliche ist die Lage besorgniserregend. Einer Studie des Industriewissenschaftlichen Instituts zufolge fehlen Österreich rund 24.000 IT-Fachkräfte. In den nächsten Jahren könnte diese Zahl auf 30.000 steigen. Der Mangel hat bezifferbare Folgen, nämlich einen Wertschöpfungsverlust von jährlich 3,8 Milliarden Euro. „Der IT-Fachkräftemangel hat seine Wurzeln auch in der IT-Ausbildung. Diese wird zurzeit nicht der Herausforderung durch den Bedarf an IT-Expertinnen und -Experten gerecht“, kritisiert Alfred Harl, Obmann des Fachverbands für Unternehmensberatung, Buchhaltung und Informationstechnologie (UBIT) der Wirtschaftskammer Österreich gegenüber der Hauszeitschrift.
Lohnerwerb statt Ausbildung
Im aktuellen IKT-Statusreport des Kärntner Instituts für Höhere Studien (KIHS) finden sich Zahlen, die dieses Bild untermauern. So ist die Abbruchquote in den IT- und ITK-Studiengängen recht hoch. Im Studienjahr 2019/2020 erreichten rund 43 % das Studienziel Bachelor nicht. Im selben Studienjahr beendeten in den Master-Studiengängen 51,4 % ihr Studium ohne Abschluss. Die Zahlen für Fachhochschulen sind etwas niedriger. Die Drop-out-Quote in Master-Studiengängen auf Fachhochschulen lag im Studienjahr 2018/2019 bei 31,8 %.
Dabei geben nicht alle ihr Studium auf, weil sie an den Anforderungen scheitern. Viele wechseln in eine berufliche Tätigkeit. Das sind nicht selten Jobs in der IT oder in angrenzenden Bereichen. Aber junge Leute, die die Hochschule in der Frühphase ihres Studiums verlassen, gehen der Industrie im Endeffekt komplett verloren. Derzeit versucht man, die Abbruch- und Durchfallquoten in Informatik und anderen MINT-Fächern zu senken. Zudem erhält der Informatikunterricht in den Schulen mehr Gewicht. Aber ohne Anstrengungen in der beruflichen Weiterbildung dürfte sich in der nächsten Zeit nicht viel ändern.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Heise-Beilagenreihe „IT-Unternehmen in Österreich stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Das Kompetenzmodell Austria
Der Branchenverband UBIT fordert deswegen schon länger eine Neuorientierung der Bildungsangebote für die IT-Berufe. Dazu gehören nicht nur Veränderungen an den Universitäten und Fachhochschulen, sondern auch ein besserer Informatikunterricht an den Schulen. Die ersten Schritte auf diesem Weg sind bereits gemacht. Österreich hat inzwischen ein eigenes Kompetenzmodell für digitale Fähigkeiten: Das „Digitale Kompetenzmodell für Österreich – DigComp 2.2 AT“ beruht auf dem entsprechenden europäischen Referenzrahmen. Es sieht insgesamt 25 digitale Kompetenzen in sechs Bereichen vor:
- Zugang und Grundlagen;
- Umgang mit Daten und Informationen;
- Zusammenarbeit und Kommunikation;
- Kreation digitaler Inhalte;
- Sicherheit;
- Probleme lösen und Weiterlernen.
Diese Kompetenzen wiederum entwickeln sich über acht Stufen: grundlegend (1–2), selbstständig (3–4), fortgeschritten (5–6) und hoch spezialisiert (7–8).
Diese Kriterien umfassen das gesamte Spektrum des beruflichen und privaten Umgangs mit der digitalen Welt. Digitale Kompetenzen zeigen sich etwa bei der E-Commerce-Nutzung, der Auswertung und Analyse von Daten, bei der Datensicherung, bei der Nutzung von digitalen Kommunikationstools oder als Kenntnisse in Suchmaschinenoptimierung (SEO). Das beginnt bei der Verwendung von digitalen Geräten und Technologien und reicht bis zur Arbeit mit digitalen Inhalten, technologischen Innovationen oder der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle.
Dig-CERT als Qualitätssiegel
Auch wenn viele sich einen großen Teil dieser Fähigkeiten selbst aneignen, braucht es Angebote für die berufliche Weiterbildung oder für Berufswechsler, die sich in der digitalen Welt orientieren müssen. Denn mittlerweile erfordern rund 90 % aller Arbeitsplätze digitale Kompetenzen in der einen oder anderen Form.
Für diesen Bedarf gibt es eine Vielzahl von Anbietern. Damit sich die Fort- und Weiterbildung an einheitlichen Standards orientiert und auch für Arbeitgeber transparenter wird, hat Österreich ein Zertifikat eingeführt. Das Dig-CERT (Zertifikat für digitales Allgemeinwissen in Beruf und Alltag) ist das erste seiner Art in Europa. Entwickelt wurde es von der Initiative fit4internet in Zusammenarbeit mit dem WIFI Wien, dem Bildungsanbieter für die berufliche Weiterbildung der Wirtschaftskammer Wien. Interessierte können hier neben Kursen zu IT und digitalen Kompetenzen auch Sprachkurse oder Veranstaltungen zur Persönlichkeitsentwicklung besuchen. Der Bildungsträger hat nun sein Kursangebot auf die sechs Kompetenzbereiche des DigComp 2.2 AT ausgerichtet. Interessierte können hier ihr Dig-CERT erwerben.
Der Digital Fitness Tracker zeigt, dass die eigenen Kompetenzen heftig überschätzt werden. Zwischen der Selbsteinschätzung und dem tatsächlichen Wissen klafft eine Lücke von rund 36 %. (Bild: fit4internet)
Neben den Kursen führt das WIFI auch Trainings für Einzelpersonen durch und konzipiert speziell auf einzelne Unternehmen zugeschnittene Bildungsmaßnahmen. Die Grundlagen vermitteln Kurse wie Digitale Grundkompetenz, Ergonomie und Ausstattung für das Homeoffice oder PC-Seminare für Einsteiger. Auf der nächsten Stufe stehen dann Schulungen in gängigen Office-Programmen wie Word, Excel oder Microsoft 365. Andere Angebote beschäftigen sich mit WordPress, HTML und CSS, dem Programmieren mit Python oder der IT-Sicherheit. Interessierte können zudem als geprüfte Netzwerk- oder Systemadmins abschließen.
Das Digital Skills Barometer
Die Initiative fit4internet hat zwischen April und Mai 2022 mit dem sogenannten Digital Skills Barometer eine Erhebung über die digitalen Kompetenzen in Österreich durchgeführt. Befragt wurde eine nach Alter, Geschlecht und Bundesland differenzierte Auswahl von 4000 im Lande lebenden Personen.
Die größten Wissenslücken fanden sich in den Bereichen Grundlagen, Zugang und Sicherheit: Mehr als die Hälfte bewegte sich auf der Kompetenzstufe 1, ihr Wissen ist also oberflächlich und lückenhaft, sie kann einfache Aufgaben nur mit Anleitung bewältigen. Die Kompetenzstufe 2 erreichte ein Fünftel der Befragten. Diese Gruppe führt einfache Aufgaben selbstständig durch und braucht nur noch gelegentlich Unterstützung. Etwa ein Viertel hatte die Kompetenzstufe 4 oder sogar höher erreicht. Diese Gruppe kann nicht nur eigenständig arbeiten, sondern ihr Wissen auch weitergeben.
Die Österreicher lernen lieber informell. Rund 70 % der Befragten eignen sich ihre Kenntnisse durch Ausprobieren oder über Internet-Plattformen an. 10,4 % der Menschen zwischen 15 und 74 nehmen übers Jahr an Bildungsveranstaltungen teil.
Immerhin steht Österreich in Sachen Digitalisierung auf Platz 10 unter den 27 EU-Ländern. Dabei soll es aber nicht bleiben. Gegenüber dem „Standard“ erklärte Florian Tursky, Staatssekretär für Digitalisierung und Breitband, er strebe bis 2025 einen Platz unter den ersten Fünf an. Dazu soll der Breitbandausbau vorangetrieben werden. Bis 2030 will Tursky Österreich flächendeckend mit stabilem und mobilem gigabitfähigem Internet ausstatten. Also sollen bis 2026 1,4 Milliarden Euro in den Breitbandausbau investiert werden. Ebenso wird die Digitalisierung der Verwaltung weiter vorangetrieben.
Neue Wege in der Bildung
Im Bildungsbereich sind ebenfalls Veränderungen auf dem Weg. Beginnend im Herbst 2022, wird in den ersten drei Klassen der AHS (allgemeinbildenden höheren Schulen) und der Mittelschulen digitale Grundbildung als Pflichtfach unterrichtet. Fachhochschulen und Universitäten erweitern ihr Angebot und bieten zum Teil auch neue Studiengänge an. An der FH Oberösterreich etwa startet das Bachelorstudium Design of Digital Products. Wer seinen Bachelor in Robotics and Artificial Intelligence machen will, kann sich zum Wintersemester erstmals an der Universität Klagenfurt einschreiben. Und in Linz hat jüngst eine neue Technische Universität für Digitalisierung und digitale Transformation ihren Lehrbetrieb aufgenommen.
Die Achillesferse dieses Vorhabens sind jedoch die fehlenden Lehrkräfte. Bildungsminister Martin Polaschek hat zwar 150 neue Planstellen für Lehrer angekündigt, konnte aber noch im September 2022 nicht sagen, wann und mit welcher Geschwindigkeit diese Stellen besetzt werden. Für die aktiven Lehrkräfte gibt es ab dem Herbst Hochschullehrgänge, die jedoch nicht verpflichtend sind. Zudem entscheidet die jeweilige Schulleitung, wer an diesen Lehrgängen teilnimmt.
Potenziale erschließen
Dabei werden Reformen im Bildungswesen und Verbesserungen in der beruflichen Weiterbildung alleine den Fachkräftemangel wohl nicht beseitigen können. Viele Arbeitgeber suchen gut ausgebildete Fachkräfte mit hohem Wissensstand und mehrjähriger Berufserfahrung. Nicht nur Berufsanfänger und Quereinsteiger haben es also schwer. Auch Frauen sind in der IT-Branche noch immer in der Unterzahl. Mädchen und jungen Frauen wird immer noch vermittelt, sie seien weniger talentiert für Mathematik oder für das Schreiben von Code als Jungen und Männer. Zudem denken viele, Programmieren sei etwas für Mathecracks. Um die 18 % der IT-Profis sind Frauen. Für sie sind Einstieg und Fortkommen in einem Berufsfeld, das oft Züge einer sozialen Monokultur trägt, immer noch schwierig.
Aber das gilt nicht nur für sie. Personengruppen, die keinen Studienabschluss und keine einschlägige Berufsausbildung durchlaufen haben, tun sich schwer und finden nur nach Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen Zugang zum IT-Arbeitsmarkt. Dasselbe gilt für Menschen mit geringerem Bildungsstand, Migrationshintergrund oder genetischer Veranlagung. Hier ist beides gefordert: ein Mentalitätswandel und maßgeschneiderte Bildungsangebote.
Friedrich List ist Journalist und Buchautor in Hamburg. Seit Anfang des Jahrhunderts schreibt er über Themen aus Computerwelt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raumfahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Internationalen Raumstation. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.