Die Donaudatendrehscheibe
Von Eduard Heilmayr
Mit Beschluss vom 1. Oktober 2020 hat der Wirtschaftsausschuss der Stadt Regensburg ein neues Projekt zur Förderung künstlicher Intelligenz in die politische Agenda der Stadt aufgenommen: die sogenannte AIR-Initiative (Applied Artificial Intelligence in Regensburg). Deren Ziel ist es, ein Netzwerk aufzubauen, das schwerpunktmäßig praktische Anwendungen künstlicher Intelligenz fördert und ermöglicht. Über den Stand der Dinge, die beteiligten Partner und die Zukunftspläne von AIR haben wir mit Philipp Berr gesprochen, Abteilungsleiter für Wissenschaft, Technologie und Cluster im Amt für Wirtschaft und Wissenschaft der Stadt Regensburg.
Überlassung verlangt Vertrauen
Im Februar 2020 startete die Stadt den ersten AIR-Workshop. Teilnehmer waren Unternehmen, aus dem Raum Regensburg, die Universität und die Ostbayerische Technische Hochschule (OTH) sowie einige relevante Cluster der Region. Drei zentrale Fragen, berichtet Berr, galt es eingangs zu beantworten: „Erstens, inwiefern ist künstliche Intelligenz für die Stadt Regensburg heute wichtig? Zweitens, wie wichtig wird sie in der Zukunft sein? Und die dritte Frage lautete: Wie kann die Stadt mit Wirtschaftsfördermöglichkeiten zu einer positiven Entwicklung beitragen?“
Die ersten beiden Antworten fielen eindeutig aus: KI ist bereits heute von großer Bedeutung – und wird es morgen umso mehr sein. Die Empfehlung der Workshop-Teilnehmer zur dritten Frage war ebenfalls klar: Die Stadt Regensburg sollte künstliche Intelligenz im Rahmen der Wirtschaftsförderung unterstützen. „Interessant für mich“, erzählt Philipp Berr, „war die Begründung der Teilnehmer“. Diese sahen nämlich die Stadt vor allem als neutralen Vermittler an. Und: „Neutralität schafft Vertrauen.“
Philipp Berr ist Abteilungsleiter für Wissenschaft, Technologie und Cluster im Amt für Wirtschaft und Wissenschaft der Stadt Regensburg. Sein aktuelles Großprojekt ist dort die Initiative AIR zur Bündelung aller KI Aktivitäten am Standort Regensburg.
Philipp Berr, Amt für Wirtschaft und Wissenschaft, D.-Martin-Luther-Straße 3, 93047 Regensburg, Tel.: 0941-507-2850, berr.philipp@regensburg.de, www.regensburg.de
Damit war die Kommune unversehens in den Rang eines ideellen „Möglichmachers“ aufgerückt, wenn man das englische Schlagwort vom „Enabler“ einmal so fassen möchte. Vertrauen nämlich, das wird sich zeigen, ist bei künstlicher Intelligenz, die meist an enormen Datenmengen trainiert wird, eine Grundvoraussetzung der Datenüberlassung. Wer Daten gibt, wünscht sich eine Instanz, die Vertrauen verdient und von der anzunehmen ist, dass sie keinen Unfug damit anstellt.
Diese Logik, das zeigte der Workshop ebenfalls, schlägt sich auch im Innenverhältnis der Projektteilnehmer zueinander nieder: Vertrauen ist hier die wichtigste Grundlage der erfolgreichen Vernetzung und der weiteren strukturierten Zusammenarbeit. „Die Stadt ist in der koordinierenden Rolle“, konstatiert Berr.
Auf Machine Learning ausgerichtet
Eine weitere Erkenntnis aus dem Start-Workshop: „Wir waren sehr überrascht, welche KI-Kompetenz Unternehmen und Hochschulen in der Stadt und im Raum Regensburg bereits aufweisen“, berichtet Berr. An der OTH Regensburg ist 2020 zum Beispiel neu der Bachelor-Studiengang „Künstliche Intelligenz und Data Science“ gestartet. Und an der Universität bildet sich um Prof. Bernd Ludwig und Prof. Rainer Spang gerade ein fakultätsübergreifendes Kollektivprojekt namens „Wissen schafft2 Daten“, das sich zwischen Big Data, künstlicher Intelligenz und Machine Learning positioniert und ausdrücklich auch die Unternehmen der Region anspricht. Auf deren Seite gibt es bereits Beispiele für anwendungsorienterte Data-Science-Teams. Der KI-Schwerpunkt, auch das zeigte sich im Workshop, liegt hier auf dem Gebiet von Machine Learning und den zugehörigen Optimierungsthemen der Industrie. Insgesamt sind die Herausforderungen, so Berr, „eher nicht algorithmischer Natur, sondern organisationstechnischer Natur“. Dabei spielen zum Teil auch branchenunterschiedliche Rechtsvorschriften eine Rolle.
Die zentrale Schwierigkeit der Unternehmen sei es derzeit, „an verwertbare und entscheidende Daten über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus zu kommen.“ Berr macht das an einem einfachen Beispiel aus der Logistik deutlich: Um Auslastung und Lieferzeiten zu optimieren, benötigen Transportunternehmen aktuelle Informationen beispielsweise zu Verkehrsampelschaltungen.
Die AIR-Initiave liegt gut im Zeitplan, 2021 sollen die ersten konkreten Projekte starten. (Bild: Stadt Regensburg, Amt für Wirtschaft und Wissenschaft)
Die komplette Datenwertschöpfungskette
Aus dem ersten Workshop im Februar hat Philipp Berr mit seinen Partnern das Whitepaper erarbeitet, das im Wirtschaftsausschuss der Stadt Regensburg bereits verabschiedet wurde. Nach der noch ausstehenden juristischen Prüfung soll es zum Jahresende veröffentlicht werden. Darin sind u.a. die AIR-Zielsetzungen als Vision formuliert: „Wir möchten die Stadt und den Raum Regensburg zu einem Hotspot für die Entwicklung und Anwendung künstlicher Intelligenz entwickeln“, sagt Berr. „Entlang der gesamten Datenwertschöpfungskette soll ein führendes Ökosystem aus Industrieunternehmen, kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), Start-ups, Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Dienstleistern sowie ansässigen Clustern und der Stadt Regensburg entstehen.“
Den Begriff „Datenwertschöpfungskette“ definiert Berr entlang der Stationen „collect, store, process, use“. Dazu gehört also die Sammlung (collect) von Sensordaten ebenso wie deren Speicherung (store) in der Cloud. Die KI-Systeme selbst sind in der Datenwertschöpfungskette der Verarbeitung (process) zugeordnet. Als wichtigen Erfolgsfaktor nennt Berr das vierte und letzte Aufgabenfeld: die Anwendung (use).
An diesem Punkt sind die konkreten Einsatzszenarien der beteiligten Unternehmen gefragt – aber eben auch die vertrauensbildende Rolle der Stadt Regensburg. Denn am KI-Einsatz haken aufseiten der Bevölkerung die Vorbehalte ein. Darum soll das Thema künstliche Intelligenz offen und ausführlich diskutiert werden, es soll sachlich Wissen vermittelt und der Nutzen von KI verständlich aufgezeigt werden. Dies sei notwendig, so Berr, „um nachvollziehbare Ängste und eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Thema KI abzubauen.“
Wissen, Akzeptanz und Datenwirtschaft
Das Regensburger AIR-Konzept steht auf drei Säulen:
- Der Wissensaustausch zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung erfolgt in einer sogenannten Triple Helix. „Hier wollen wir gemeinsame Projekte identifizieren, Experten zusammenbringen, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben durchführen und wettbewerbsfördernde Modelle entwickeln“, erklärt Berr. Dazu wurden bereits KI-Anwendungsfelder definiert: Industrie, Health, Mobilität, Digitale Stadt und Green Tech.
- „Die zweite Säule“, erklärt Berr weiter, „nennen wir ‚Haus der KI‘“. Damit solle ein Ort geschaffen werden – eine Art Begegnungsstätte –, die Bürgerinnen und Bürger mit KI-Spezialisten zusammenbringt. Einerseits sollen dort im Dialog Berührungsängste abgebaut werden, anderseits die Potenziale von KI als Unterstützungswerkzeug für viele Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens aufgezeigt werden.
- Die dritte Säule ist ein Data Hub, eine Art Datendrehscheibe, die sichtbare und transparente Qualitätsdaten bereitstellen soll. „Wir wollen die Zugangsbarrieren zu diesen Daten so niedrig wie möglich halten“, betont Berr. Dies sei für alle Unternehmen wichtig, besonders für KMU und Start-ups. In diesen Datenpool sind Smart-City-Daten ausdrücklich mit einbezogen; in der Pflicht sind hier in erster Linie die Stadt Regensburg selbst sowie ihre Tochtergesellschaften.
Momentan dreht sich alles um ChatGTP. Für die Zeit davor gibt eine Einführung einen ersten Überblick über den Stand der Technologien, die Fortsetzungen skizzieren praktische Einsatzgebiete für KI, insbesondere in der Industrie. Für den Lebenslauf könnten die Ratgeber zur KI-Studienstrategie bzw. zum KI-Studium (auch in Kombination mit Robotik) sowie zum Berufsbild Machine Learning Engineer und zum KI-Manager nützlich sein – aber auch die Übersicht zu den Jobs, die KI wohl ersetzen wird.
Extrabeiträge untersuchen, wie erfolgreich Computer Computer hacken, ob und wann Vorbehalte gegen KI begründet sind und warum deshalb die Erklärbarkeit der Ergebnisse (Stichwort: Explainable AI bzw. Erklärbare KI) so wichtig ist. Hierher gehört außerdem der Seitenblick auf Maschinenethik und Münchhausen-Maschinen. Als weitere Aspekte beleuchten wir das Verhältnis von KI und Vorratsdatenspeicherung sowie die Rolle von KI in der IT-Sicherheit (KI-Security), fragen nach, wie Versicherungen mit künstlicher Intelligenz funktionieren, hören uns bei den Münchner KI-Start-ups um und sehen nach, was das AIR-Projekt in Regensburg vorhat. Ein Abstecher führt außerdem zu KI-Unternehmen in Österreich.
Auf der rein technischen Seite gibt es Berichte zu den speziellen Anforderungen an AI Storage und Speicherkonzepte bzw. generell an die IT-Infrastruktur für KI-Anwendungen. Außerdem erklären wir, was es mit AIOps auf sich hat, und im Pressezentrum des MittelstandsWiki gibt es außerdem die komplette KI-Strecke aus dem Heise-Sonderheft c’t innovate 2020 als freies PDF zum Download.
Zu prüfen gilt es zunächst, welche Daten überhaupt vorhanden sind. Dann geht es darum, welche Daten mit Rücksicht auf Vorgaben wie die DSGVO teilbar sind. Generell behalte man den Schutz personenbezogener Daten im Blick, betont Berr, „und natürlich das individuelle Wissen der beteiligten Partner, also den Schutz von deren geistigem Eigentum.“
Aus diesen Gründen wird die Datenbereitstellung im Data Hub zunächst keinen uneingeschränkten Zugang haben; zuerst müssen noch die erforderlichen organisatorischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Berr denkt hier an „eine Art Treuhändermodell“. Den bedachten Umgang mit Daten sieht er als „eine der Voraussetzungen, um Vertrauen herzustellen und die Zusammenarbeit in unserem Sinne zu ermöglichen.“
Koordination von Industrie, Wissenschaft und Clustern
Die bisher an AIR beteiligten Partner gliedern sich in vier gleichberechtigte Gruppen: „Industrial Actors“, „Key Science Actors“ und „Core Partners“ sowie eine Rolle „Coordinator“.
- „Die Industrial Actors sind die zentralen Treiber unserer AIR-Initiative, sie geben die Ziele vor“, erklärt Berr. Organisiert in der Triple Helix fanden seit Februar bereits drei Workshops in den Anwendungsfeldern Sensorik, Health und Mobilität statt, zuletzt der Kick-Off-Workshop mit dem E-Mobilitätscluster Regensburg und der OTH Ende September 2020. Weitere sind bereits geplant.
- Key Science Actors sind die beiden Regensburger Hochschulen, die Universität und die OTH. Sie unterstützen die AIR-Initiative durch fachliches Know-how und koordinieren die Gemeinschaftsprojekte, vor allem aber sind sie, so Berr, „die Treiber des Transfers von wissenschaftlichen KI-Erkenntnissen in konkrete Anwendungen der Partner“.
- Unter Core Partners sind die relevanten Cluster der Stadt Regensburg zusammengefasst. Sie gestalten die strategische Ausrichtung der AIR-Initiative aktiv mit und berücksichtigen deren Ziele im eigenen Leistungsportfolio. Besonders wichtig, so Berr, „ist ihre Mitwirkung an der Ideenfindung, die Beteiligung an Workshops, das Übernehmen von Aufgabenpaketen im jeweiligen Fachbereich, wie IT-Sicherheit und Datenschutz, Mobilität und Health.“ Außerdem unterstützen die Cluster bei der Erstellung von Förderanträgen. Vertreten sind hier zum Beispiel der IT-Sicherheitscluster, die Strategische Partnerschaft Sensorik und Industrieverein Bayern für angewandte Künstliche Intelligenz sowie das Innovations- und Gründerzentrum TechBase.
- Die federführende Organisation obliegt schließlich dem Coordinator. Diese Rolle ist als Bindeglied zu Politik und Stadtverwaltung konzipiert; derzeit wird sie noch von der Stadt Regensburg selbst wahrgenommen – in Gestalt von Philipp Berr. Das soll sich aber bald ändern: „Die Stadt Regensburg soll nicht langfristig diese Koordinationsrolle ausfüllen“, sagt er. Eine „Cross-Cluster-Organisation“ dürfte diese Aufgabe dann übernehmen, eine Organisation als Verein wäre eine mögliche Lösung.
Regensburg auf dem europäischen Datenweg
Eine Menge Arbeit haben Berr und seine Partner seit Februar 2020 schon geleistet. Und es wird auf absehbare Zeit auch nicht weniger werden, da ist sich Berr sicher. Weitere Workshops in den einzelnen Anwendungsfeldern sind bereits geplant, ebenso wie das Go-Live der Webseite. Als wichtiger nächster Schritt ist ein Status-Event für Top-Entscheider aus der Politik für Dezember 2020 geplant.
Die AIR-Initiative ist zwar regensburgregional angesetzt, begreift sich aber als Teil einer europäischen Entwicklung, als Etappe des „europäischen Wegs“ (Berr) zu KI, der anders verläuft als in den USA oder in China. Den europäischen Weg zeichnet aus, dass er zivilgesellschaftlich diskutiert und datenschutzkonform ist. „Ich bin der Überzeugung“, betont Berr, „dass Daten das Öl, wenn nicht sogar das Plutonium des 21. Jahrhunderts sind, und wir müssen die Fähigkeit entwickeln, den Umgang mit Daten für unsere Gesellschaft und Wissenschaft gewissenhaft anzuwenden und einzusetzen.“
Eduard Heilmayr war acht Jahre lang Chefredakteur bei „Markt & Technik“, anschließend dort im Verlagsmanagement tätig. 1992 gründete er die AWi Aktuelles Wissen Verlagsgesellschaft mbH in München, die IT-Fachmagazine wie „LANline“, „Windows NT“, „Unix Open“, „Inside OS/2“ und „Electronic Embedded Systeme“ publizierte. Nach dem Verkauf des Verlags gründete er 2004 Delphin Consult. Neben meist mehrjährigen Projektarbeiten für renommierte Medienunternehmen wie Heise oder techconsult publiziert Heilmayr für rund 4000 Leser regelmäßig den redaktionellen Newsletter „Kommunale ITK“, der im MittelstandsWiki eine eigene Rubrik hat.