Bewegte Zukunft
Von Dirk Bongardt
Das Klima ändert sich. Auch das gesellschaftliche. War das Auto noch vor ein paar Jahren des Deutschen liebstes Kind, gerät es inzwischen zunehmend in die Kritik. Es verbrauche zu viel Energie, nehme zu viel Fläche in Anspruch, verpeste die Luft speziell in Innenstädten und sei mitverantwortlich für den Klimawandel. Politiker, und längst nicht mehr nur solche aus dem grünen Lager, fordern eine Verkehrswende. Wie die auszusehen hat und wie folglich die Mobilität der Zukunft aussehen wird, darüber herrscht freilich keineswegs Einigkeit.
Ein Fünftel des CO₂-Ausstoßes in Deutschland geht auf die Kappe des Verkehrs. In Baden-Württemberg ist es, so die Baden-Württemberg Stiftung, sogar knapp ein Drittel. Hier einen Hebel anzusetzen, um die CO₂-Bilanz zu verbessern, scheint einerseits vielversprechend. Andererseits ist die Region aber überproportional von der Automobilindustrie abhängig, und die wiederum von einer auch zukünftigen Individualmobilität.
Eine Herausforderung, drei Szenarien
Vor diesem Hintergrund hat die BW Stiftung in Kooperation mit dem BUND-Landesverband Baden-Württemberg 2015 die Untersuchung „Mobiles Baden-Württemberg – Wege der Transformation zu einer nachhaltigen Mobilität“ in Auftrag gegeben. Erarbeitet haben die Studie Wissenschaftler des Öko-Instituts, des Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, des IMU-Instituts und des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE). Die Autoren modellieren darin drei unterschiedliche Szenarien für die Jahre 2030 und 2050; sie untersuchen dabei, inwieweit unter den jeweiligen Voraussetzungen die bereits beschlossenen globalen, nationalen und regionalen Klimaschutz-, Umweltschutz– und Nachhaltigkeitsziele in Baden-Württemberg zu erreichen sind.
Drei Szenarien für die Zukunft: Die Nachhaltigkeitsstudie zur Mobilität in Baden-Württemberg gibt es bei der BW Stiftung zum Herunterladen. (Bild: Baden-Württemberg Stiftung)
- Das erste Szenario geht von einem gegenüber heute kaum veränderten Mobilitätsverhalten der Menschen aus: Die überwiegende Mehrheit nutzt nach wie vor eigene Autos, die in Zukunft allerdings autonom, und angetrieben von einem Elektromotor unterwegs sein werden. Nachteil dieses Szenarios: Nach wie vor werden Energie- und Flächenverbrauch in den Städten enorm sein.
- Das zweite Szenario geht von neuen Geschäftsmodellen aus, die durch die Digitalisierung möglich geworden sind. In diesem Modell nutzen Menschen zwar weiterhin Autos, schaffen sich aber selbst keine mehr an, sondern kombinieren Carsharing mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In diesem Szenario sinkt der Platzbedarf für Autos und Verkehr, ehemalige Verkehrsflächen können anders genutzt werden, was insbesondere in Innenstädten mehr Lebensqualität verspricht.
- Das dritte Szenario setzt voraus, dass ein immer größerer Anteil der Bevölkerung einen bewussteren Lebensstil pflegt. In diesem Szenario sind die zurückzulegenden Strecken insgesamt kürzer, weil Wohnen, Freizeit und Arbeit in einem engen Umfeld stattfinden. Für kurze Strecken nutzen Menschen Fahrräder oder gehen zu Fuß, längere Strecken legen sie in Bussen oder per Bahn zurück. In dieser völlig neuen Mobilitätskultur gehört das Teilen von Fahrzeugen zur Normalität, private Pkw sind praktisch überflüssig geworden.
Motorisierungsrate (Pkw in % der Einwohnerzahl), 2010–2050 (NIM = Szenario „Neue Individualmobilität“, NDL = Szenario „Neue Dienstleistungen“, NMK = Szenario „Neue Mobilitätskultur“). (Bild: Baden-Württemberg Stiftung)
Wie nachhaltig sind die Szenarien?
Die anschließende Analyse der Szenarien auf Nachhaltigkeit kommt allerdings zu ernüchternden Resultaten: Zwar lassen sich die Nachhaltigkeitsziele mit dem dritten Szenario „Neue Mobilitätskultur“ in ihrer Gesamtheit am ehesten erreichen, allerdings sind dann die Einbußen in Sachen Umsatz und Beschäftigung am größten. Insgesamt sehen die Forscher kein Szenario, in dem es nicht zumindest in geringerem Maß zu solchen Einbußen kommt. Einschneidende Veränderungen in der Automobilindustrie und den angrenzenden Wirtschaftszweigen sind nach Ansicht der Studienautoren unvermeidbar. Sich ändernde Markt- und Standortanteile, die Abhängigkeit von globalen Entwicklungen des Absatzmarktes, die Entwicklung der Produktivität und der Einfluss von technischen Entwicklungen wie der Elektromobilität und des automatisierten Fahrens tragen ihren Teil dazu bei.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Magazinreihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen bereits verfügbaren Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Eine andere Studie, „Die Evolution der Mobilität“, in Auftrag gegeben vom ADAC und erstellt vom Zukunftsinstitut, sieht ebenfalls Umwälzungen im Verkehrssektor voraus, vor allem in Form einer Auffächerung des Individualverkehrs in eine zunehmende Vielfalt an Mobilitätsformen. Insgesamt verzeichnet der Personenverkehr in der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000 einen Anstieg um über 11 %. Nach Prognosen der Europäischen Kommission wird der Mobilitätsbedarf hierzulande in den nächsten Jahrzehnten weiterhin kontinuierlich ansteigen, bis 2040 auf mehr als 1,3 Billionen Personenkilometer. Drei Viertel davon werden die Deutschen dieser Studie zufolge weiterhin im Auto zurücklegen. Dennoch sehen die Ersteller der Studie einen „langsamen Abschied vom Auto, wie wir es kannten“ vorher: „Im Selbstverständnis der Menschen wird der Pkw eben nicht mehr zwingend die erste Wahl sein, sondern als Teil neuer, integrierter Mobilitäts- und Verkehrssysteme eine – weitgehend gleichberechtigte – Option unter anderen“, heißt es darin.
Beim ADAC spielt das Auto erwartungsgemäß eine dauerhaft tragende Rolle im Verkehrsgeschehen. Die Studie „Die Evolution der Mobilität“ gibt es beim Zukunftsinstitut zum Download. (Bild: ADAC e.V.)
Die Studie weist den Autos der Zukunft eine Rolle als „Third Places“ zu, als Orte, an denen die Insassen die Fahrzeit sinnvoll nutzen, während die Fahrzeuge sie autonom ans Ziel bringen. Gleichzeitig sehen die Mitarbeiter des Zukunftsinstituts aber auch Umwälzungen in der Art, wie – und wo – die meisten Menschen ihre Arbeit verrichten. Verkehrsmittel, aber auch Bahnhöfe, Flughäfen, Hotels oder Coworking Spaces werden der Studie zufolge zum festen Bestandteil unserer Arbeits- und Lebenswelt. Sie bilden die „Hardware“ des Mobile Offices in der Netzwerkökonomie von morgen. Smart Travel bedeutet dann nicht nur zuverlässig, sicher und bequem zu reisen, sondern zugleich sinnvoll arbeiten zu können – und nicht zuletzt, sich gesund fortzubewegen.
Der Einführungsbeitrag beginnt in Berlin – die Bundeshauptstadt ist experimentierfreudiger Vorreiter neuer Mobilitätskonzepte. Gute Beispiele meldet der Report auch aus Hamburg und Dresden. Teil 2 begibt sich dann in den Westen nach Nordrhein-Westfalen; dort hat das Zukunftsnetz Mobilität NRW viele Projektfäden in der Hand. Eine wichtige Rolle spielt hier der öffentliche Personennahverkehr, denn immer mehr Verkehrsbetriebe lassen ihre Busse mit Biogas fahren. Teil 3 geht zu den Ursprüngen der Automobilindustrie und sieht sich an, wie sich Baden-Württemberg und insbesondere Stuttgart die Zukunft der Mobilität vorstellen. Teil 4 berichtet aus dem benachbarten Flächenland Bayern, Teil 5 fährt über die Grenze nach Österreich. Außerdem gibt es bereits einen Report zu mobilen Stauwarnanlagen und intelligentem Verkehrsmanagement sowie zu autonomen Schiffen, Wasserstoffprojekten, Business-Bikes, Stadtseilbahnen sowie Lufttaxis und Urban Air Mobility.
Stadt, Land und alles dazwischen
Die ADAC-Studie bietet differenzierte Prognosen zur mobilen Zukunft. Die Forscher haben dazu sechs Strukturtypen ausgemacht: Condensed Space, Clustered Space, Linked Space, Lined Space, Interspace und Off-Space.
- Condensed Space beschreibt innerstädtisch-urbane Räume mit hoher Mobilitätsdichte. Hier sehen die Forscher einen deutlichen Wandel in der Verkehrsmittelnutzung. Die Hauptrollen sollen hier in Zukunft der öffentliche Verkehr, das Radfahren und das Zufußgehen spielen. Optimistisch zeigen sich die Forscher, was dabei die Rolle autonomer Transportmittel betrifft: „Erweitert um selbstfahrende Fahrzeuge, wird der Nahverkehr so intelligent und komfortabel sein wie heute Taxifahren“, heißt es.
- Als Clustered Space beschreibt die Studie Metropolregionen und Ballungsräume mit hohem regionalen und weiter steigendem Verkehrsaufkommen. Trotzdem rechnen die Forscher mit einem Rückgang des Pkw-Verkehrs in diesen Räumen. E-Bikes sollen dabei eine zentrale Rolle spielen, denen die Forscher für die Zukunft Standardgeschwindigkeiten von mehr als 40 km/h vorhersagen. Aber auch Fahrgemeinschaften und Corporate-Carsharing-Modelle könnten eine wichtige Rolle spielen.
- Als Linked Space bezeichnen die Forscher Verbindungen zwischen vorurbanen Gebieten und Städten, die weit über das unmittelbare Umland und die Vorortgürtel hinaus regionale Einzugsgebiete bilden. Ihre Vision skizzieren die Mitarbeiter des Zukunftsinstituts so: „Pendler fahren aus dem Umland von Städten im Jahr 2040 per E-Carsharing zur nächsten Bahnhaltestelle und legen die letzten Kilometer zur Arbeit mit dem Leihfahrrad oder dem E-Roller zurück.“ Den Schlüssel zu erfolgreicher Mobilität in diesen Räumen sehen die Forscher in einer Förderung des öffentlichen Nahverkehrs und im Ausbau von Radschnellwegen.
- Unter Lined Space versteht die Studie Achsen zwischen Großstädten, die zwar erhebliche Entfernungen überwinden müssen, dank schneller, hochfrequenter Verbindungen aber tägliche Pendlerdistanzen darstellen. Die optimistische Prognose: „Verlässliche, hochfrequente Verbindungen werden dank virtueller Vernetzung und intelligentem, hyperlokalem Mobilitätsmanagement zum bundesweit flächendeckenden Standard bis in ländliche Regionen hinein.“ Angesichts der Zeit, die Langenstreckenpendler unterwegs verbringen, erwarten die Forscher aber auch steigende Ansprüche: Die Studie spricht von Third Places, „in denen man komfortabel und gesund unterwegs ist, worin man sich gern aufhält, wohlfühlt, seine Zeit aber auch sinnvoll und produktiv verbringen kann.“
- Mit Interspace meinen die Zukunftsforscher internationale Mittel- und Langstreckenverbindungen, die dank globaler Vernetzung auch über Metropolen hinaus immer schneller zurückgelegt werden. Für das Arbeitsleben 2040 erwarten die Forscher: „Für die multi-mobile Business Class ist ständiges Unterwegssein keine Ausnahmesituation, sondern der Normalfall des Berufsalltags. Ein Höchstmaß an Flexibilität, Vernetzung und Internationalität ist selbstverständlich.“
- Eine ganz andere Rolle spielt in Zukunft der Off-Space: Damit beschreibt die Studie überwiegend ländlich geprägte Regionen mit gering ausgebauter Verkehrsinfrastruktur. Auch 2040 werden immerhin noch 15 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands auf dem Land leben – kaum weniger als derzeit. Gerade dort sollen sich nach den Prognosen der Zukunftsforscher die technischen Entwicklungen besonders stark auswirken: „Die Funktionserweiterung der Automobilität – als Integration von Smart Grid, Smart Car und Smart Home – greift vor allem im Off-Space“, heißt es in der Studie. Und: „Vor allem in dünn besiedelten Regionen stehen dezentrale Flotten autonomer Fahrzeuge zur Verfügung, die gemeinschaftlich bewirtschaftet werden – quasi als Mobilitätsgenossenschaften.“
Nahaufnahme: Stuttgart
Mehr als andere Städte von diesem Wandel betroffen ist die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart. Zum einen, weil sie mit Daimler und Porsche zwei der renommiertesten Autohersteller weltweit beheimatet, zum anderen, weil sie auch von ihrer Topografie her vor vielfältigen Herausforderungen in Sachen Mobilität steht. Die Innenstadt Stuttgarts liegt in einem Talkessel und ist von einem Höhenkranz umgeben, der sich zum Neckartal hin öffnet. Diese Kessellage, und die Bebauung innerhalb des Kessels, verhindern, dass Winde Schadstoffe in der Luft schnell abtransportieren. Seit Januar 2019 gilt im gesamten Stadtgebiet daher ein Fahrverbot für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren der Abgasnorm Euro 4/IV und schlechter.
Der Stuttgarter Aktionsplan umreißt neun Handlungsfelder mit konkreten Maßnahmen für eine nachhaltige Mobilität in der Landeshauptstadt. (Bild: Landeshauptstadt Stuttgart)
Die Verantwortlichen der Stadt haben in einem Verkehrsentwicklungskonzept, das bis 2030 reicht, und in einem zugehörigen Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ Ziele formuliert, die künftig für bessere Luft und mehr Lebensqualität sorgen sollen. Zu den erklärten Zielen gehört unter anderem die „Reduzierung des mit konventionellen Antrieben ausgestatteten Autoverkehrs im Talkessel um 20 %“. Die Topografie stellt beim Umstieg aufs Fahrrad schon aufgrund der Höhenunterschiede eine besondere Herausforderung dar, auch wenn das Verkehrsentwicklungskonzept hier – insbesondere im Hinblick auf elektrisch gestützte Fahrräder – zumindest zum Teil auf mehr Radfahrbereitschaft setzt. Wichtige Faktoren sind aber auch in Stuttgart der Ausbau des ÖPNV sowie eine bessere Vernetzung und Abstimmung der verschiedenen Verkehrsmittel.
Die Mobilität ist in Bewegung
Einen „Abschied vom Auto, wie wir es kannten“ halten Forscher für unvermeidbar. Individuelle Mobilität wird wohl aber auch in Zukunft unverzichtbar sein. Ob damit die Klimaziele, zu denen sich Bund und Länder verpflichtet haben, zu erreichen sind, und wie sich die Entwicklungen auf Wirtschaft und Beschäftigung auswirken, ist umstritten. Unbestritten ist, dass wir morgen und übermorgen ganz anders unterwegs sein werden als heute. Aber: unterwegs.
Dirk Bongardt hat vor Beginn seiner journalistischen Laufbahn zehn Jahre Erfahrung in verschiedenen Funktionen in Vertriebsabteilungen industrieller und mittelständischer Unternehmen gesammelt. Seit 2000 arbeitet er als freier Autor. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf praxisnahen Informationen rund um Gegenwarts- und Zukunftstechnologien, vorwiegend in den Bereichen Mobile und IT.
Dirk Bongardt, Tel.: 05262-6400216, mail@dirk-bongardt.de, netknowhow.de