Pflichtenheft für die öffentliche Verwaltung
Von David Schahinian
Die Interaktion zwischen Unternehmen und der Verwaltung soll in Zukunft deutlich schneller, effizienter und nutzerfreundlicher werden. So zumindest verkündete es das Bundesinnenministerium. Konkret wurden dazu 575 zu digitalisierende Verwaltungsleistungen identifiziert und 14 Themenfeldern zugeordnet – beispielsweise der „Unternehmensführung und -entwicklung“. Die Umsetzung über zwei Digitalisierungsprogramme (Bund und Föderal) ist in vollem Gange. Dem Amtsschimmel Beine zu machen – um es salopp zu sagen – ist ein Mammutprojekt. Gelingt es, kann das dem Land einen großen Schub geben. Alleine ein mittelständisches Unternehmen hat nach Angaben des Ministeriums rund 200 Verwaltungskontakte im Jahr: „Damit ist die Wirtschaft ‚Power-User‘ der Verwaltung.“ Abgesehen davon profitieren natürlich auch die Bürger in hohem Maße davon.
Viel zu tun und wenig Zeit
Tatsächlich werden hier und da Fortschritte vermeldet. In Bremen etwa kann seit Dezember 2020 ein Handwerksbetrieb vollständig online gegründet, in Hamburg kann die Bestellung von Geldwäschebeauftragten seit Kurzem online gemeldet werden. Allein aufgrund der Vielzahl an umzusetzenden Leistungen sind solche einzelnen Erfolgsmeldungen häufig zu lesen, ein Gesamtbild zeigen sie jedoch nicht. Wer genauer hinschaut, sieht, dass noch einiges im Argen liegt. Von großer Erleichterung oder Dankbarkeit aufseiten der Unternehmen ist jedenfalls noch wenig zu spüren. Mehrere IT-Dienstleister ließen unsere Anfrage zum Thema unbeantwortet oder wollten sich nicht öffentlich dazu äußern.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazinreihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“ erschienen. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen bereits verfügbaren Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Blicken wir also zunächst einmal auf die Seite der Verwaltung. Der RBB sah sich im November 2020 im Rathaus im brandenburgischen Heideblick um. Die Digitalisierung kommt in der Gemeinde mit rund 3500 Einwohnern voran. Von dem Ziel, dass Bürger und Unternehmen Verwaltungsdienstleistungen vom Schreibtisch aus wahrnehmen können, sei man aber „leider noch weit entfernt“, so der parteilose Bürgermeister Frank Deutschmann. Mittlerweile wurde die komplette IT-Infrastruktur an den Zweckverband Digitale Kommunen Brandenburg ausgelagert.
Die Vorgaben des OZG werde Heideblick aber trotzdem nicht erfüllen können, zitiert der Sender den Vorsteher des Verbands, Oliver Bölke: „Die Ziele des Gesetzes sind utopisch. Wir stecken noch in den Kinderschuhen. Das müssen wir uns alle ehrlich eingestehen.“ Seit November 2020 sind zwar einige Monate vergangen und bis Ende 2022 bleibt noch Zeit. Laut OZG sollen aber auf kommunaler Ebene 460 Verwaltungsdienstleistungen bis dahin komplett digital funktionieren. Für 2021 sieht Bölke fünf als realistisches Ziel.
Vom Online-Fachkongress am 17. und 18. März 2021 aus Dresden berichtet ein Mehrteiler im MittelstandsWiki: Teil 1 geht mit den Positionen von Ernst Bürger, Jan Pörksen und Dr. Markus Richter das Onlinezugangsgesetz von politischer Seite an. Der Folgebeitrag dreht sich um die konkrete OZG-Umsetzung in den Kommunen. Teil 3 berichtet schließlich von einzelnen Themenfeldern, auf denen bereits Erfolge zu verzeichnen sind.
Fokus auf die Wirtschaft
Heideblick ist eine kleine Gemeinde und sicher nicht repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik. Die grundlegenden Probleme aber scheinen vielerorts die gleichen zu sein. Dazu zählen mangelnde Ressourcen, mangelnde Zeit und mangelndes Know-how. Hochqualifizierte IT-Fachkräfte, die solche Digitalprojekte stemmen können, dürften angesichts der Gehälter in der freien Wirtschaft eher selten in Behörden zu finden sein. „Die Wahrscheinlichkeit, dass bis zum Stichtag nach über fünf Jahren nur eine Vielzahl von Baustellen zu sehen sein wird, ist ziemlich groß“, konstatiert das Heise-Magazin Telepolis. Wenn man das Dilemma bei der Vergabe der Corona-Impftermine betrachte, bleibe für Optimismus hinsichtlich der OZG-Umsetzung nur wenig Raum. Viele Kommunen, die sich bislang noch nicht an die Digitalisierung ihres Angebots gewagt haben, würden sich noch in der Hoffnung wiegen, dass die verpflichtende Einführung der Digitalisierung nach dem OZG noch weiter verschoben wird.
Die Unternehmen – ohnehin vielfach von der Corona-Krise gebeutelt – werden angesichts der Möhre, die ihr die Politik hingehalten hat, aber zunehmend ungeduldig. So bezeichnete der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) das OZG im März 2021 als „entscheidenden Hebel, um die digitale Verwaltung endlich in die Fläche zu bringen“. Die Aufstockung der schon bereitgestellten Mittel von 1,5 auf 3 Milliarden Euro im Rahmen des Konjunktur- und Krisenpakets sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Doch Geld allein reiche nicht aus: „Zunächst sollte mit aller Kraft daran festgehalten werden, das OZG bis 2022 umzusetzen.“ Es sei von entscheidender Bedeutung, dass die neu entwickelten digitalen Angebote nicht nur in einzelnen Kommunen oder Ländern, sondern möglichst zeitnah für alle Unternehmen bereitgestellt werden. Vor allem wünscht man sich beim BDI einen stärkeren Fokus auf die Wirtschaft als „bedeutenden Akteur und zentralen Nutzer“. Verwaltungsleistungen müssten insgesamt viel stärker aus der Perspektive der Endnutzer statt auf Grundlage verwaltungsinterner Belange geplant werden. Genau mit diesem Anspruch wurde das OZG 2017 tatsächlich einmal beschlossen.
Behördenkultur und Servicegedanke
Die Friedrich-Ebert-Stiftung verweist zudem auf einen grundlegenden Kulturwandel, der mit den technischen Entwicklungen einhergehen müsse – auch und vor allem innerhalb der Behörden. Für Unternehmen sei die Digitalisierung der Verwaltung zwar meist vorteilhaft, etwa aufgrund kürzerer Bearbeitungszeiten und der besseren Verfügbarkeit von Dienstleistungen. Sie bringe aber auch einschneidende Veränderungen im Anforderungsprofil und Arbeitsalltag der Angestellten im öffentlichen Dienst mit sich: „Für sie wird die Arbeit technikabhängiger, teilweise monotoner und damit auch belastender.“ Auch die soziale Interaktion zwischen den Angestellten reduziere sich – ein Aspekt, der bisher in den meisten Umsetzungsplänen und Diskussionen noch zu kurz kommt, der aber nicht vernachlässigt werden sollte. Schon oft sind hochtrabende Projekte gescheitert, weil man die, die sie umsetzen sollen, nicht genügend einbezogen hat.
Das Portal Verwaltung der Zukunft verweist in dem Zusammenhang darauf, dass das OZG nicht das erste Vorhaben seiner Art ist. Versuche, die Verwaltungen zu modernisieren, gebe es bereits mindestens seit den 1980er-Jahren: „Bei allen Bemühungen blieb die Ausrichtung und Kultur preußisch-staatlicher Behörden jedoch bewahrt. Und das heißt: Verwaltung hat in erster Linie neutral zu funktionieren.“ Das System sei berechenbar gewesen und habe juristisch einwandfrei sein müssen. Das habe im Zweifelsfall lange gedauert, aber den Vorteil gebracht, dass man sich auf diese unpersönliche Weise weitaus besser verlassen konnte als auf Zuruf, Verwandtschaftsgrad oder Geldbeutel. Wo lange das Motto „Keine Experimente“ galt, ist es nun verständlicherweise schwer, einen Kulturwandel hin zu hierarchiearmen und dynamischen Konzepten zu erreichen. „Wenn es aber unter dem immer stärkeren Digitalisierungsdruck gelingt, zumindest den aufkommenden Keim des Kulturwandels in der Verwaltung weiter wachsen zu lassen, wäre das schon ein guter Schritt nach vorn“, konstatiert der Autor.
Synergien aus Kooperationen
Unterdessen bilden sich zunehmend Kooperationen heraus – wie jene zwischen den Städten Wetzlar, Fulda, Gießen, Marburg und Limburg. Im Rahmen einer interkommunalen Zusammenarbeit wollen sie die Umsetzung des OZG gemeinsam vorantreiben. Geplant ist, dass alle fünf Städte Verwaltungsprozesse vom Antrag bis zum Ergehen eines Bescheides gemeinsam in die digitale Welt übertragen. In einem weiteren Schritt sollen volldigitalisierte Leistungen ohne Medienbrüche folgen.
Ein anderes, speziell auf Unternehmen zugeschnittenes Beispiel findet sich in Lemgo. Das dortige kommunale Rechenzentrum (krz) und die kommunalen Wirtschaftsförderer aus den Kreisen Herford, Lippe und Minden-Lübbecke mit ihren kreisangehörigen Kommunen haben im März eine intensive Zusammenarbeit vereinbart. Es wurde eine neue Facharbeitsgruppe Unternehmensservices eingerichtet. Für die dortige Wirtschaft dürfte sich die Zielsetzung geradezu traumhaft anhören: Die eingebundenen Wirtschaftsförderer sollen ihr „Ohr an den Unternehmen“ haben und so ergründen, wo und welche elektronischen Dienste sie für besonders wichtig, prioritär, häufig benötigt oder aus sonstigen Gründen für bedeutsam erachten. „Sie sollen dann vom krz vorrangig technisch umgesetzt werden, um die Unternehmen im Verbandsgebiet durch digitale Dienste gezielt zu entlasten“, sagt Projektleiter Torsten Fisahn. Dem Ganzen liegt eine übergeordnete „Digitalvision 2025“ zugrunde.
Gute Zeiten für Systemhäuser
Auf eine ganz andere Weise hat das OZG einigen IT-Unternehmen indes schon ganz konkret geholfen – wenn auch anders als ursprünglich gedacht. Die Halterner Zeitung etwa berichtet über einen Umsatzrekord des 1980 gegründeten Dortmunder Dienstleisters Materna im Geschäftsjahr 2020. „Wir haben zahlreichen Unternehmen und Behörden dabei geholfen, ihre Digitalisierungsvorhaben erfolgreich voranzutreiben“, wird der Vorstandsvorsitzende Martin Wibbe zitiert. Sehr erfreulich habe sich das Geschäft mit Kunden in der öffentlichen Verwaltung entwickelt. Für Materna sei das OZG ein wichtiger Motor.
David Schahinian arbeitet als freier Journalist für Tageszeitungen, Fachverlage, Verbände und Unternehmen. Nach Banklehre und Studium der Germanistik und Anglistik war er zunächst in der Software-Branche und der Medienanalyse tätig. Seit 2010 ist er Freiberufler und schätzt daran besonders, Themen unvoreingenommen, en détail und aus verschiedenen Blickwinkeln ergründen zu können. Schwerpunkte im IT-Bereich sind Personalthemen und Zukunftstechnologien.