Beschwerdeführer liegen vorn
Von Dr. Jürgen Kaack, STZ-Consulting Group
Welche Auswirkung können gerade soziale Netzwerke auf die politische Willensbildung und das politische Handeln haben?
Die Tatsache, dass die meisten Politiker heute ihre eigenen Profile bei Facebook und anderen sozialen Plattformen haben (bzw. diese durch ihre Büros betreiben lassen), ändert zunächst nicht viel im politischen Meinungsbildungsprozess. Andererseits haben Bürger durch die sozialen Netzwerke eine einfache und unmittelbare Möglichkeit gefunden, Meinungen zu äußern und mit anderen in einen Austausch einzutreten.
Zunächst ist dies eine deutliche Erweiterung der früheren „Stammtischdiskussionen“. Auf diesem Wege können wieder größere Bevölkerungskreise für politische Themen und den Entscheidungsprozess interessiert werden. Die Entwicklung kann sich in Richtung einer direkteren Einflussnahme erweitern, quasi vergleichbar mit unkontrollierten und nicht offiziellen Volksabstimmungen. Dabei können Aktivitäten im Internet unter Umständen die Rolle der etablierten Parteistrukturen unterlaufen oder einen Bypass zu den politischen Parteien bilden.
Online-Wahlrecht und -beteiligung
Eine solche Entwicklung muss keineswegs nur positiv wirken, da der Prozess der Meinungsbildung im Internet keinen demokratisch kontrollierten Abläufen entspricht. Mit der richtigen Auswahl und Aufbereitung von Fakten lassen sich Nutzer auf der emotionalen Ebene und unter Missachtung rationaler Argumente beeinflussen. Abstimmungen im Internet und in Foren sozialer Netzwerke sind eigentlich nie auch nur annähernd repräsentativ, da die Grundgesamtheit nicht bekannt ist und die Regeln repräsentativer Befragung nicht eingehalten oder kontrolliert werden können. Durch gefälschte – oder vielleicht sogar gekaufte – Identitäten lassen sich so genannte Abstimmungen in die gewünschte Richtung manipulieren.
Teil 1 wirft einen Blick auf den Globus und deutet, wo soziale Netzwerke in der Politik mitmischen. Teil 2 sichtet die Online-Meinungsbildung nach Teilhabe, Verfahren und Risiken.
Dieses Risiko ist aber nicht Internet-spezifisch. Insbesondere Themen mit emotionaler Aufladung werden oft ohne gesicherte Faktenlage diskutiert und bewertet.
Ein typisches Beispiel ist die Risikodiskussion um die Nutzung der Kernenergie. Mit Ängsten und komplexen Zusammenhängen lässt sich durch Simplifizierung und emotionale Aufbereitung eine Grundstimmung erzeugen, die über soziale Netzwerke leicht multiplizierbar ist und durch die Verkürzung von Argumentationen eingängig wird. Hierin liegt sicher eine der Gefahren von Diskussionen und Meinungsbildung über soziale Netzwerke.
Das Web regelt sich selbst
Auf der anderen Seite zeigt das Beispiel von Wikipedia, dass selbst eine chaotische Form der Wissensgenerierung bei Schaffung einer selbstorganisierten Struktur zu außergewöhnlichen Ergebnissen führen kann. Wikipedia ist heute die vermutlich weltweit umfangreichste Sammlung von lexikalischem Wissen und v.a. wesentlich aktueller als jedes gedruckte Lexikon. Dabei werden Fehler durch die Mitwirkung eines großen Kreises von freiwilligen Lektoren in kurzer Zeit gefunden und beseitigt. Die bewusste Fälschung oder Verfälschung ist zwar nicht ausgeschlossen, aber die Wahrscheinlichkeit einer sehr schnellen Korrektur ist ein ausgleichendes Regulativ. In der Anfangszeit von Wikipedia wurde dies von Vertretern der klassischen Medien und der „Wissensgesellschaft“ noch anders gesehen.
Selbst Organisationen wie WikiLeaks entfalten ihre Bedeutung, indem nichtöffentliche Quellen einer breiteren Schicht interessierter Nutzung zugänglich gemacht werden. Dieses Vorgehen ist nicht neu: Sowohl im Rahmen des investigativen Journalismus, als auch in der Industriespionage wird das Ziel verfolgt, als geheim eingestufte Informationen aufzudecken. Grundsätzlich ist Transparenz eine sinnvolle Größe, sofern hierdurch einzelnen Personen oder Gruppen kein Schaden zugefügt wird. Präsident Nixon und der Watergate-Skandal sind ein gutes Beispiel für das Wirken investigativer Aufklärung.
Die Diskussion hat zwei Seiten
Um die Energie der politischen Internet-Aktiven konstruktiv nutzen zu können, ist es notwendig, dass nicht nur die Gegner einer strittigen Angelegenheit vertreten sind. Derzeit sind die Gegner bei Internet-Aktionen im Vorteil und die „Sprachlosigkeit“ oder Abwesenheit der Befürworter verhindert den konstruktiven Dialog. Dies wird deutlich bei den Revolutionen in Nordafrika oder bei den Stuttgart-21-Demonstrationen.
Selbst wenn sich die Vertreter unterschiedlicher Positionen in Gruppen organisieren, so gibt es heute kaum eine Kommunikation zwischen den getrennten Gruppen. Solange es bei der Kommunikation innerhalb der Gruppen bleibt, wird für den demokratischen Prozess kein besonderer Fortschritt erreicht.
Damit unterschiedliche Interessenvertreter erfolgreich in Dialog miteinander treten, bedarf es eines strukturierten Prozesses und einer Moderation – in ähnlicher Weise wie bei einem Schlichtungsverfahren. Für die Umsetzung in sozialen Netzwerken sind wohl weitere Innovationen erforderlich. Für die Rolle des Moderators ist eine neutrale und allseits akzeptierte Institution erforderlich.
Fazit: Schwarmintelligenz als Korrektiv
Grundsätzlich bietet das Internet – und das gilt ganz besonders für die sozialen Netzwerke – eine gute Chance, Demokratie zu stärken, Bürger wieder an den politischen Prozess heranzuführen und eine Teilhabe zu ermöglichen, die die politischen Parteien offensichtlich nicht in gleicher Weise schaffen. Es bedarf allerdings noch einer Struktur und eines selbstorganisierenden Prozesses (wie bei Wikipedia), um einen offensichtlichen Missbrauch einzuschränken. Insbesondere ist es unabdingbar, dass die politischen Parteien und Organisationen selber aktiv mit dem Medium umgehen und offene Diskussionen fördern.
Auf dieser Basis kann die breite Intelligenz neue Potenziale entfalten, die im Sinne der Bürgerbeteiligung nicht nur für die emotional wirksamen Themen genutzt werden kann, sondern als Vorbereitung zur breiten Entscheidungsfindung. Unter dem Stichwort eParticipation bzw. E-Partizipation wird dies bereits in ausgewählten Projekten wie Planfeststellungsverfahren oder Bürgerhaushalten genutzt. Bei einer breiten Bürgerbeteiligung können das vorhandene Wissen und die Erfahrung der Bevölkerung nutzbringend eingesetzt werden.
Dabei sollte der breite Diskurs über unterschiedliche Fragestellungen mit Internet-Applikationen nicht als Einführung einer allgemeinen direkten Demokratie missverstanden werden. Allerdings kann die Grundlage für Entscheidungen verbessert werden und es können zusätzliche Alternativen abgewogen werden. Vermutlich gelingt es so, die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen einzugrenzen. Es macht auf der anderen Seite aber sicher keinen Sinn, politische Entscheidung über reine Mehrheitsentscheidungen und Online-Abstimmungen zu fällen.
Nützliche Links
Die E-Partizipationstestläufe der Europäischen Union sind praktisch abgeschlossen; damit scheint von dieser Seite die Sache erledigt. Übrig sind Momentum und das allgemeinere Portal ePractice.eu. Eine aktive, europaweite Sammelsite ist das Pan European eParticipation Network (PEP-NET).