Prototypen auf dem Holodeck
Von Kai Tubbesing
In der industriellen Fertigung werden Designmodelle längst im virtuellen Raum erschaffen, auf ihre Umsetzbarkeit getestet und wunschgemäß angepasst. Architekten und Innenraumdesigner laden ihre Kunden bereits vor dem ersten Spatenstich auf einen Rundgang in ihr künftiges Zuhause ein. Und selbst die Gestaltung von modischen Textilien läuft ohne Nadel und Faden ab.
Hologramm statt Zeichenbrett
Als Pionier im Bereich des Produktdesigns gehört die Automobilindustrie zu den frühesten Anwendern von VR- (Virtual Reality) und AR-Vorgehensweisen (Augmented Reality). Wo früher nach jedem größeren Gestaltungsschritt auf dem Papier in einem zeit- und kostenintensiven Prozess maßstabgetreue Clay-Modelle aus Industrieplastilin hergestellt werden mussten, geht es heute viel schneller und günstiger. Grobe, physische Modelle sind zwar weiterhin unverzichtbar, dienen aber vor allem als Projektionsfläche für holografische Inhalte.
Ford und VW beispielsweise vertrauen auf für die Verwendung im Team synchronisierte HoloLens-Datenbrillen von Microsoft, um die Automobile der Zukunft zu konzipieren. Holografische 3D-Bilder kompletter Fahrzeuge oder einzelne Designelemente werden auf ein Clay-Modell projiziert. Die Entwickler können um das virtuelle Auto herumlaufen und einzelne Elemente aus allen Blickwinkeln ins Auge fassen, während Sensoren an der AR-Brille die Positionierung im Raum überprüfen und eine perspektivisch korrekte Darstellung ermöglichen. Dabei lassen sich verschiedene Designs von beispielsweise Rädern, Stoßfängern und Rückleuchten darstellen oder Farben und Materialtexturen anpassen, begutachten und bewerten.
Auf diese Weise ist auch die Zusammenarbeit von Teams an verschiedenen Standorten und aus unterschiedlichen Entwicklungsbereichen möglich. „Wir arbeiten mit den Kollegen der technischen Entwicklung sehr eng zusammen und sind damit ganz nah an den neuesten Fahrzeugkonzepten und Designstudien“, so Frank Ostermann, Leiter des Virtual Engineering Lab von VW, wo künftig ganze Bauteilgruppen im virtuellen Raum konzipiert und getestet werden sollen.
Ein großer Vorteil besteht darin, dass die Designer die AR-Darstellungen genau so sehen, wie der Kunde am Ende das fertige Produkt. So springen ihnen Probleme ästhetischer wie funktionaler Natur bereits frühzeitig ins Auge, die bei der herkömmlichen Herangehensweise über Skizzen oder Darstellungen auf einem 2D-Monitor vielleicht erst nach der aufwendigen Anfertigung von Prototypen aufgefallen wären: Ist der Außenspiegel groß genug und richtig positioniert? Wurde die B-Säule vielleicht zu breit gestaltet und wie sieht es mit den Spaltmaßen zwischen den Einzelbestandteilen der Karosserie aus?
Mittels VR-Datenbrillen tauchen VW-Designer bei der Ausarbeitung neuer Produkte in eine virtuelle Umgebung ein. (Bild: Volkswagen AG)
Produktdesigns werden aber nicht nur mittels AR-Einblendungen entworfen, sondern auch vollständig abgeschottet in der virtuellen Realität entwickelt: Audi setzt künftig auf das in Kooperation mit der Stuttgarter Agentur Lightshape entwickelte Virtual Reality Holodeck, einen 15 × 15 m großen Raum, in dem bis zu sechs Personen mit einer HTC Vive, einem Computersystem im Rucksack und Handeingabegeräten um ein digitalisiertes Fahrzeugmodell herumlaufen können.
Ford verwendet eine eigene VR-Software zum Entwurf virtueller Designs, welche die Bezeichnung Studio 2000X trägt. Mithilfe einer HTC Vive und Googles Tilt Brush werden 3D-Skizzen und Entwürfe direkt im virtuellen Raum erstellt. Viele Designer, die in 2D-Umgebungen gelernt haben, stellt das allerdings vor eine völlig neue Herausforderung. Für höchst detaillierte Nahdarstellungen eignet sich die Herangehensweise nur bedingt, dazu lösen moderne VR-Headsets noch nicht hoch genug auf. 2D-Skizzen und Visualisierungen auf Basis herkömmlicher CAD-Software wie etwa der entsprechenden Lösungen von Autodesk sind zumindest gegenwärtig noch unverzichtbar.
Avatare im Fachgespräch
Ein wichtiger Anbieter von Extended-Reality-Lösungen für das Produktdesign ist Mackevision aus Stuttgart. Die CGI-Experten (Computer Generated Imagery) sind an der Umsetzung von Spezialeffekten in der Kultserie Game of Thrones beteiligt und stellen ihr VR-System für HTC Vive oder Oculus Rift bereits mehreren Automobilherstellern zur Verfügung. Ebenso wie bei der Lösung von Ford diskutieren die Designer ihre Entwürfe im virtuellen Raum mit den Ingenieuren, die die Fahrzeuge später bauen. Die Beteiligten werden dabei durch Avatare repräsentiert.
Notizen, Änderungsvorschläge und weitere Informationen lassen sich in der Software hinterlegen. Ein spezieller Zeichenstift soll es künftig erlauben, auch direkt in die 3D-Modelle hineinzuzeichnen. Als vollständig virtuelle Simulation ist die Lösung unabhängig von der Größe des verwendeten Raumes: Selbst auf kleinster Fläche werden die Modelle maßstabgetreu angezeigt. „Designer oder Ingenieure können ihre Projekte und Produkte im 1:1-Verhältnis in einer realen Umgebung in Echtzeit gemeinsam sehen, reflektieren und bearbeiten – egal an welchem Ort sie sich befinden“, erklärt Kian Saemian, Senior Manager Business Development bei Mackevision.
Eine haptische Erfahrung der VR-Inhalte ist zumindest aktuell noch nicht möglich, aber auch das könnte sich bald ändern: Eine britisch-japanische Kooperation der beiden Unternehmen Ultrahaptics und Asukanet stellte kürzlich ein holografisches Display mit haptischem Feedback via Ultraschall vor. Eine Alternative sind spezielle Handschuhe wie die HaptX von AxonVR oder die etwas einfachere VR-Handschuhlösung von Sony, die ebenfalls den Eindruck von Berührungen vermitteln sollen.
Im November 2017 hat HaptX seinen innovativen Hightech-Handschuh vorgestellt, der VR-Szenarien zum Anfassen ermöglicht. (Bild: HaptX Inc.)
Gebäuderundgang vor Baubeginn
Aber auch über den automobilen Bereich hinaus finden AR- und VR-basierte Technologien zur Produktentwicklung zunehmend Verwendung: Während der Flugzeughersteller Embraer beide Herangehensweisen nutzt, um Luftfahrzeuge zu designen und schon weit vor ihrer Produktion begehbar und erfahrbar zu machen, setzt die NASA Microsofts HoloLens ein, damit Ingenieure am Modell des für 2020 geplanten Mars Rover frühzeitig mögliche Designfehler erkennen können.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Heise-Beilage „IT- und Technologieunternehmen stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Nicht minder gravierend sind die Auswirkungen von AR- und VR-Anwendungen auf die Arbeit in den Bereichen Architektur und Inneneinrichtung. Das japanische Architekturplanungsbüro Freedom Architects Design bietet seinen Kunden bereits seit Anfang 2017 virtuelle Rundgänge durch ein geplantes Gebäude an, wodurch neue Formen der direkten Interaktion möglich werden. Zu diesem Zweck wird der Bauplan in der BIM-Software (Building Information Modelling) Autodesk Revit erstellt, konvertiert, in der Rendering-Software Stingray dreidimensional visualisiert und für den Kunden über ein VR-System wiedergegeben. Das erlaubt eine viel anschaulichere Erfahrung der Vision des Architekten, als sie Worte, Skizzen oder ein hölzernes Miniaturmodell jemals vermitteln könnten. Äußert der Kunde während des virtuellen Rundgangs Änderungswünsche, kann der Architekt diese umgehend umsetzen und die verbesserte Alternative präsentieren.
Auf diese Weise lässt sich bereits vor Baubeginn eine Vielzahl von Problemen aus dem Weg räumen, die ansonsten erst bei der Schlüsselübergabe aufgefallen wären und deren Beseitigung zusätzliche Kosten verursacht hätte. Eine für kleine Personen zu hohe Arbeitsfläche in der Küche wird beim virtuellen Rundgang ebenso schnell erkannt wie zu tief hängende Lampen. Selbst Kleinigkeiten wie der Lichteinfall im Schlafzimmer lassen sich simulieren und vor Baubeginn optimieren.
Sogar einzelne Bauabschnitte werden zur besseren Beurteilung entlang eines Zeitstrahls in der Software visualisiert: Die 3D-Modelling-VR-Plattform des Planungs- und Architekturbüros Bryden Wood und der BIM-Spezialisten von 3D Repo soll genau dieser Anforderung gerecht werden und gerade bei Großbauten die Projektplanung durch ein Team von Architekten an unterschiedlichen Standorten erleichtern. Hersteller von Möbeln oder funktionalen Gegenständen für Küche oder Waschraum bieten häufig von sich aus BIM-Daten an, die Architekten in ihre Simulationen integrieren, um ein schnelles Durchblättern zwischen verschiedenen Modellen zu erlauben. Wünscht der Kunde also doch eher ein rosa Cordsofa statt der gediegenen, dunkelbraunen Ledercouch, lässt sich dies in Echtzeit anpassen.
Im Schwerpunktbeitrag zeichnet Axel Opermann nach, wie der VR/AR-Hype zum Geschäftsmodell geworden ist. Die weiteren Folgen sichten einerseits konkrete Extended-Reality-Anwendungen in der Industrie, speziell im Automobilbau, andererseits schicke VR-Lösungen zum Anfassen und Eintauchen für Consumer. Außerdem stellen wir das Berufsbild Virtual-Reality-Entwickler vor, zeigen praktische Use Cases bei der RZ-Wartung auf und bitten Dr. Thomas Alt zum Interview über Augmented Reality im Kundensupport. Lohnend ist nicht zuletzt ein Seitenblick ins Erlanger Hybrid Studio und nach Österreich – dort sitzen einige der interessantesten XR-Start-ups weltweit.
Wunschdesign im Handumdrehen
Zumindest im Kleinen wird auch der Privatanwender über entsprechende AR-Apps für das Tablet oder Smartphone zu seinem eigenen Innenraumdesigner: Der Büroeinrichtungsspezialist Steelcase, der Steckdosen- und Schalteranbieter Gira oder auch der Möbelkatalog von IKEA erlauben die Anzeige der eigenen Produkte mitten im persönlichen Wohnumfeld. Die MyDaylight-App von Velux ermöglicht sogar die Simulation des Lichteinfalls in einen Raum bei der Verwendung unterschiedlicher Fenster. Zwar sind nach wie vor Spezialisten nötig, um architektonische Pläne mit Programmen wie SketchUp von Google/Trimble oder Autodesks Revit in frei erkundbare VR-Szenerien zu übertragen. Aber auch dieser Prozess soll künftig durch Hilfsmittel wie IrisVR erleichtert werden.
All dies funktioniert auch im größeren Maßstab: Die Leipziger Full-Service-XR-Agentur Ovrlab hat gemeinsam mit dem 3D-Visualisierungsstudio LeFx eine VR-basierte Lösung für ein fiktives Pharmaunternehmen entwickelt, mit der sich optimale Raumdesigns für professionelle Einsatzszenarien ausloten lassen. „Einzelne Sitzgruppen lassen sich in ihrem Aussehen ändern, aber es können auch Arbeitsplätze auf unterschiedliche Art und Weise angepasst werden. Der Clou dabei: Während des virtuellen Rundgangs können die Anwender sogar mit den Geräten im Labor interagieren. Das erleichtert die Beurteilung und Anpassung des Bürodesigns und erlaubt eine exakte Ausrichtung des Modells an den Kundenwünschen“, erklärt Hannes Finke von LeFx.
Digitaler Faltenwurf
In der Modebranche bieten AR- und VR-Lösungen nicht nur Einsteigern eine Möglichkeit, sich selbst auszuprobieren, ohne dass sie dazu teure Stoffe kaufen oder auch nur Nadel und Faden in die Hand nehmen müssten. Bereits 2016 kombinierte der Fashion-Profi Jim Reichert eine Microsoft HoloLens mit dem 3D-Modell eines weiblichen Menschen aus dem Spiel Second Life, um ein Kleid in der erweiterten Realität zu gestalten. Auf der Amsterdam Fashion Week 2017 wurden ebenfalls Möglichkeiten zum Echtzeit-Design von Kleidungsstücken vorgestellt und mittels Datenbrille im laufenden Designprozess auf ein menschliches Model projiziert.
Doch auch der abgeschlossene virtuelle Raum eignet sich zur Kleidungsgestaltung mittels HTC Vive oder Oculus Rift. Hier kommt vor allem Googles Tilt-Brush-Software zum Einsatz, die das freihändige Zeichnen von Pinselstrichen im dreidimensionalen Raum ermöglicht. Auf diese Weise lassen sich verschiedene Farben, Texturen oder Stoffe ausprobieren, um Kleidungsstücke auf virtuellen Modellpuppen abzubilden und anschließend in einer 360-Grad-Rundumansicht zu betrachten.
Sicher sind auch die übernächsten Topmodels noch aus – mehr oder weniger – Fleisch und Blut und traditionelle Designtechniken weiterhin nicht komplett ersetzbar. Doch Extended-Reality-Lösungen sparen nicht nur Zeit und Geld, sie erweitern auch die Möglichkeiten im Produktdesign. Und die Entwicklung steht ja noch ganz am Anfang.
Kai Tubbesing arbeitet als freier Fachjournalist, Texter für Unternehmen und Agenturen sowie Übersetzer im Herzen des Ruhrgebiets. Sein Kompetenzportfolio umfasst neben klassischen IT-Themen wie Netzwerktechnologien, Security und PC-Hardware auch den Mobilgeräte- und Audiobereich. Bis 2017 war er als leitender Redakteur und stellvertretender Chefredakteur in der deutschen Redaktion von Tom’s Hardware tätig.