Extended Reality in Österreich: Wo Österreich an virtuellen Welten baut

VR- und AR-Techno­logie boomt, in Öster­reich vor allem in den Regionen Wien, Linz und Graz, mit­unter sogar mit Hard­ware made in Austria. Das Spektrum reicht von der industriellen Anlagen­wartung bis hin zu im­mersiver Kunst. Ein inter­essanter Einsatz­schwerpunkt bildet sich zudem im Immobilien­markt heraus.

Durchblick in Digitalwelten

Von Kai Tubbesing

Wachsender Beliebtheit erfreut sich Virtual Reality als Präsentationsform in Verkauf und Marketing, vor allem die Immobilienwirtschaft visualisiert zunehmend in VR. So wandert ein Interessent bereits vor der Grundsteinlegung unabhängig von Zeit und Ort durch sein späteres Domizil, um Änderungswünsche zu äußern – ein deutlich immersiveres Erlebnis als der Blick auf triste, seitenlange Exposés.

Virtueller Spatenstich

Der Clou: Materialien, Farben und Texturen von Wänden und Böden sowie Möbeln lassen sich auf Knopfdruck anpassen. Medien- und IT-Spezialisten wie 3 motion (Wien), Bildraum (Wien, Graz), ByteFex (Sankt Stefan ob Stainz), Mox Innovations (Linz), Threesixty Media Solutions (Graz), Realonaut (Wien) oder Squarebytes (Wien) haben sich allesamt der Umsetzung immersiver Immobilienpräsentation verschrieben. Das Angebot reicht von 360-Grad-Videos, bei denen der Makler Interessenten durch den festen Zeitablauf eines Films mit Rundumblick führt, bis hin zu 360-Grad-Fotografien und gerenderten 3D-Umgebungen, die sich völlig frei mit dem Smartphone oder einer hochauflösenden VR-Brille begehen lassen. Ein Vorteil computergenerierter Umgebungen sind die erweiterten Interaktionsmöglichkeiten, etwa anpassbare Tageslichtsituationen, bewegliche Türen oder auch funktionierende, virtuelle Lichtschalter. Roomle (Linz) hat sich hingegen auf eine Augmented-Reality-App spezialisiert, die mittels Smartphone oder Tablet verschiedene Möbeldesigns in den eigenen vier Wänden zeigt, und verkauft die Software zudem an Händler und Hersteller zur Umsetzung des eigenen AR-Produktkatalogs.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Heise-Beilagenreihe „IT-Unternehmen aus Österreich stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.

Einen anderen Weg geht Xeometric aus Linz als größter, heimischer Anbieter für CAD-Architektur. Die 3D-CAD-Software Elitecad Architektur bietet professionelle, dreidimensionale BIM-Gebäudeplanung (Building Information Modeling), in der das Modell in ständiger Relation mit sämtlichen automatisch aktualisierten Plänen und der grafischen Massenermittlung steht. Architekten, Bauherren und Kaufinteressenten durchwandern bereits während der Planungsphase die Immobilie: Mittels direkter Anbindung beliebiger Controller und VR-Headsets können in Echtzeit Anpassungen an der Gestaltung und Ausstattung des BIM-Modells vorgenommen werden. Bibliotheken mit Möbeln, Materialien, Farben und verschiedene Beleuchtungseinstellungen führen zum vollständig eingerichteten, virtuellen Gebäude. Auf Wunsch sind in Sekundenschnelle 360-Grad-Panoramen und Rundgänge in Form von 360-Grad-Videos verfügbar. Ein spezielle Softwarevariante steht auch für nichtplanende Anwender zur Verfügung: Der Elitecad Styler bietet die Möglichkeit, dem virtuellen Rohbau als importiertem 3D-Modell durch das Ergänzen einer kompletten Innenraumgestaltung Leben einzuhauchen. Der Vorteil von Elitecad: Eine Übergabe der 3D-Modelldaten an einen externen Dienstleister zwecks einer Aufbereitung für den VR-Rundgang ist überflüssig. Speziell für 3D-Konstruktionen in der Industrie sowie im Maschinen- und Anlagenbau hat Xeometric mit Elitecad Mechanik zudem eine klassische 3D-CAD-Software im Portfolio, die ebenfalls über eine Möglichkeit zur VR-Visualisierung verfügt. So werden konstruierte Modelle sowie einzelne Bauteilgruppen virtuell erlebbar und anpassbar.

Datenbrillen made in Austria

Die AR-Datenbrille VPS19 des Wiener Unternehmens Viewpointsystem wurde 2019 in Las Vegas mit dem CES Innovation Honoree Award ausgezeichnet und beherrscht Eye-Tracking: In den Nasenbügel integrierte Kameras verfolgen die Pupillenposition des Anwenders in Echtzeit. Sie erlauben das zielgerichtete Einblenden kontextbezogener Informationen zu fokussierten Objekten auf ein ansteckbares Zusatzdisplay und ermöglichen gleichzeitig eine freihändige Menüsteuerung über Augengesten. Das Eye-Tracking dient jedoch auch dazu, die Aufmerksamkeit gezielt auf unbeachtete Objekte am Sichtfeldrand zu lenken.

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Die VPS 19 mit Smart Unit von Viewpointsystem kann die Blickfolgen der Träger hochpräzise mitverfolgen, das Eye-Tracking funktioniert sogar in Echtzeit. Mit dem MR Click-on Display zum Aufstecken lassen sich Hinweise, Zeichnungen, Texte, Skizzen, Pläne etc. einfach ins Blickfeld einblenden – ideal für den Remote Support. Die Datenbrille selbst bringt gerade einmal 43 g auf die Waage. (Bild: Viewpointsystem)

Zu den wichtigsten Einsatzbereichen der Datenbrille zählt die Fernwartung. Möchte beispielsweise ein Techniker im Außeneinsatz eine ihm unbekannte Maschine instandsetzen, springt ihm ein erfahrener Kollege aus der Zentrale virtuell zur Seite und kann die Blicke des Technikers genau mitverfolgen, um ortsübergreifend in Echtzeit zu kommunizieren sowie Informationen oder Konstruktionspläne einzublenden. Spezielle Apps wie ein Barcode-Scanner erweitern die Funktionen zusätzlich. Die Datenbrille registriert binnen Sekunden sämtliche Strichcodes im Sichtfeld und blendet via Augengestensteuerung weitere Informationen ein. Zu den bisherigen Kunden von Viewpointsystem, das sämtliche Schritte von der Forschung und Entwicklung über das Prototyping bis zur Assemblierung am Stammsitz abbildet, zählen unter anderem Branchenschwergewichtige wie Coca-Cola und Heineken.

TriLite Technologies, ebenfalls mit Sitz in Wien, arbeitet derweil am eigenen Angaben zufolge weltweit kleinsten RGB-Laserprojektor für AR- und VR-Headsets sowie Head-up-Displays. Der TriLite Trixel möchte ab Ende 2020 mit einem der bislang größten Probleme bei AR-Headsets aufräumen: Im Vergleich zu herkömmlichen Brillen fielen sie in der Vergangenheit oft zu klobig und schwer aus. Die Hoffnung, damit zum Zulieferer globaler Tech-Riesen zu werden und einen neuen Industriestandard zu setzen, scheinen auch die heimischen Investoren zu teilen: Anfang des Jahres konnte das Trilite einen siebenstelligen Betrag von einer Investorengemeinschaft einfahren, der unter anderem der Risikokapitalgeber Hermann Hauser und Apex Ventures angehören.

Thema: Extended Reality
Im Schwerpunktbeitrag zeichnet Axel Opermann nach, wie der VR/AR-Hype zum Geschäftsmodell geworden ist. Die weiteren Folgen sichten einerseits konkrete Extended-Reality-Anwendungen in der Industrie, speziell im Automobilbau, andererseits schicke VR-Lösungen zum Anfassen und Eintauchen für Consumer. Außerdem stellen wir das Berufsbild Virtual-Reality-Entwickler vor, zeigen praktische Use Cases bei der RZ-Wartung auf und bitten Dr. Thomas Alt zum Interview über Augmented Reality im Kundensupport. Lohnend ist nicht zuletzt ein Seitenblick ins Erlanger Hybrid Studio und nach Österreich – dort sitzen einige der interessantesten XR-Start-ups weltweit.

Produktentwicklung auf dem Holodeck

Das 2015 gegründete Innsbrucker Unternehmen Holo-Light ist auf industrielle AR-Anwendungen spezialisiert. Eine frische Finanzierungsrunde spülte kürzlich 4 Millionen Euro für die Ausweitung des internationalen Geschäfts in die Kassen. Mit der AR-Entwicklungsplattform ARES (Augmented Reality Engineering Space) für Ingenieure und Industriedesigner verlagert Holo-Light das Arbeiten an Prototypen oder auch die Planung vollständiger Fabrikanlagen auf das Holodeck. Dreidimensionale CAD-Designs werden als maßstabgetreue oder skalierte Hologramme in das Sichtfeld der Augmented-Reality-Brille geworfen. Auf diese Weise ist das gemeinschaftliche Arbeiten an mehreren virtuellen, frei im Raum platzierbaren 3D-Objekten möglich. Einzelne Bauteilgruppen lassen sich hervorheben oder die inneren Strukturen an beliebigen Punkten im Querschnitt betrachten, sodass Designfehler bereits vor dem physischen Prototyp erkannt werden.

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Ende Oktober 2020 stellte Holo-Light seine neue Remote-Rendering-Lösung vor: ISAR (Interactive Streaming for Augmented Reality) kann gesamte AR- und VR-Applikationen in Echtzeit streamen. (Bild: Holo-Light)

Zu den renommierten Kunden zählt etwa BMW. Der Automobilhersteller verwendet ARES zur AR-Darstellung virtueller Fahrzeuge und einzelner Bauteilgruppen in den eigenen Werkhallen, um geplante Montageprozesse bereits vorab zu optimieren, so etwa hinsichtlich der Einsehbarkeit wichtiger Montagepunkte. BASF hingegen plant mit ARES vor Ort komplette Fabrikanlagen, um Zeit und Materialkosten zu sparen – vom Arrangement einzelner Rohrleitungen bis zur optimalen Platzierung von Fertigungsanlagen. Für Steuerungsbefehle und die Manipulation virtueller AR-Objekte setzt Holo-Light auf Handgesten oder den ebenfalls selbst entwickelten Eingabestift Stylus XR mit präzisem, millimetergenauem Tracking, den Thyssenkrupp Marine Systems bereits erfolgreich beim Vermessen und Ausrichten einzelner Komponenten im U-Boot-Bau verwendet.

Von der Kunst zur Tankstelle

Artivive aus Wien schickt sich an, physische Kunst mittels einer AR-App um eine virtuelle Komponente zu ergänzen. Richtet ein Betrachter sein Smartphone im Museum auf ein Gemälde, erweitert das Programm die Bildschirmdarstellung um zusätzliche Animationen auf dem Kunstwerk, Informationen zur Entstehungsgeschichte oder Musik. Zu den Kunden des erst 2017 gegründeten Start-ups zählen unter anderem das Shanghai Himalayas Museum und die Wiener Albertina, die über die App etwa Monets Seerosenteich zum Leben erweckt.

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Bereits 2017 erweckte Artivive in China für die Ausstellung „Miracle: The Bellini Family and the Renaissance“ die Welt der italienischen Meister zu virtuellem Leben. (Bild: Artivive)

Grundlegend sieht das Konzept aber nicht nur eine Erweiterung klassischer Gemälde vor, sondern zielt auch auf die Schaffung neuer Kunst ab, bei der die physische und virtuelle Komponente von Beginn an miteinander verquickt sind. Für die Zukunft plant Artivive die Implementierung eines Marktplatzes für Digitalkunst, auf dem Künstler und mögliche Käufer oder Auftraggeber für digitale Werke in Kontakt kommen.

Phenomatics aus Leonding hat sich bereits 2003 auf Extended-Reality-Anwendungen spezialisiert. Beim Geschäftszweig 3D Explorer setzt der Technologiepionier nicht nur 360-Grad-Panoramaansichten von Immobilien, sondern auch virtuelle Touren mit dem Smartphone oder VR-Headset durch Museen um. Gebäude und Exponate zeichnet das Unternehmen mittels Fotogrammetrie und 3D-Scans auf. Museumsliebhaber können somit durch virtuelle, authentische Abbilder weit entfernter Ausstellungen schreiten und zusätzliche Informationen abrufen. Zu den umgesetzten VR-Projekten zählen unter anderem das Webereimuseum in Haslach an der Mühl sowie die Renaissance-Sammlung im Sainsbury-Flügel der Londoner National Gallery.

Einen vollkommen anderen Anwenderkreis adressiert Phenomatics mit dem VR Simulator SAVE, entwickelt in Kooperation mit dem österreichischen Öl- und Gasunternehmen OMV. Berufseinsteiger lernen in der virtuellen, interaktiven Simulationsumgebung die Bedienung von Maschinen und die Funktionszusammenhänge kennen, bevor das Energieunternehmen sie auf die echten Anlagen loslässt.

Use Cases für die Umsetzung

Mit einer gesunden Mischung aus einer vitalen Start-up-Szene und etablierten Unternehmen ist Österreich bestens für die virtuelle Zukunft gerüstet: Ein hohes Innovationspotenzial trifft auf bereits bestehende, schlüsselfertige Extended-Reality-Lösungen für die unterschiedlichsten Branchen. Vielfach fehlt allerdings noch die Bereitschaft, bereits vorhandene VR- und AR-Lösungen auch einzusetzen: Eine aktuelle PwC-Umfrage kommt zu dem Schluss, dass eine Mehrheit von 79 % der heimischen Unternehmen bislang noch auf die Vorteile der noch jungen Technologien verzichtet, fehlendes Fachwissen bei der Implementierung zählt zu den maßgeblichen Hürden. Passionierte, regionale Communities aus VR-Profis und -Enthusiasten sowie Forschungseinrichtungen arbeiten derweil an zahlreichen Use Cases und Beratungs- sowie Demonstrationsmöglichkeiten, die der Extended Reality in der österreichischen Wirtschaft weiteren Vortrieb leisten sollen.

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Kai Tubbesing arbeitet als freier Fach­journalist, Texter für Unter­nehmen und Agenturen sowie Über­setzer im Herzen des Ruhr­gebiets. Sein Kom­petenz­portfolio um­fasst neben klassischen IT-Themen wie Netz­werk­technologien, Security und PC-Hard­ware auch den Mobil­geräte- und Audio­bereich. Bis 2017 war er als leitender Re­dakteur und stell­vertretender Chef­redakteur in der deutschen Redak­tion von Tom’s Hard­ware tätig.

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