Wer lange lebt, entwickelt neue Bedürfnisse
Von Stefan Heng, Deutsche Bank Research
Der demografische Wandel wirkt auf Gesellschaft und Wirtschaft massiv ein. Auch die Informations- und Kommunikationstechnik (IuK) muss sich noch intensiver als bisher auf die alternde Gesellschaft einstellen. Dabei geht es zum einen darum, die IuK-Angebote auf die speziellen Bedürfnisse der älteren, oft körperlich eingeschränkten Menschen abzustimmen und so das Absatzpotenzial im Privatkundenmarkt zu erweitern.
Zum anderen ermöglicht die IuK-Technik den älteren Mitarbeitern im Unternehmen, in flexibilisierten Arbeitsverhältnissen länger am Erwerbsleben teilzunehmen. Diese kreative Teilhabe und die damit verbundene gesellschaftliche Integration können den Selbstwert dieser gesunden „jungen Alten“ verbessern.
Die Technik setzt beim Wohlbefinden älterer Menschen an und eröffnet darüber hinaus auch Potenziale zur Entlastung der Renten-, Pflege- und Krankenkassen. Dabei ist das hier angesprochene Potenzial enorm: Beispielsweise schätzt Robert E. Litan vom New Millennium Research Council, dass sich die Entlastung der Sozialkassen und die zusätzlichen Erlöse aus einer erweiterten Erwerbsbeteiligung allein in den USA auf jährlich 40 Mrd. Euro summieren; dies entspricht 4,1 ‰ des Bruttoinlandsprodukts.
Demografischer Wandel als Treiber
Das Statistische Bundesamt schätzt, dass in Deutschland die Lebenserwartung eines Neugeborenen in den nächsten 20 Jahren um weitere vier Jahre steigen wird (Lebenserwartung eines heute neugeborenen Jungen: 76 Jahre; Mädchen: 82 Jahre). Dadurch steigt auch das Verhältnis der über 65-Jährigen zur Bevölkerung im Erwerbsalter weiter an, von heute 31% auf über 50 % in 2035. Gesellschaft und Sozialsysteme müssen darauf vorbereitet werden, dass der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in den nächsten 20 Jahren um die Hälfte wächst, während sich der Anteil der über 80-Jährigen sogar verdoppelt.
Das Phänomen der alternden Gesellschaft tritt nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen hoch entwickelten Industriestaaten auf. In diesen Ländern kommen auf einen über 65-Jährigen immer weniger Menschen im Erwerbsalter. Weltweit wird die Zahl der über 60-Jährigen in den nächsten 15 Jahren auf 1,2 Mrd. wachsen und sich damit im Vergleich zu heute verdoppeln.
Teil 1 stellt sich auf dem Kopf, um die Alterspyramide wirtschaftlich sinnvoll zu sehen, und erledigt gängige Vorurteile. Teil 2 klopft den demografischen Wandel auf sein wirtschaftliches Potenzial ab – und sieht sich vor neuen Hürden stehen. Teil 3 schwört Anbieter auf Benutzerfreundlichkeit ein und empfiehlt für erfolgreiche Seniorenprodukte Rat und Service als Zusatzleistungen.
Weltweit setzen sich daher die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft mit den drängenden Fragen des demografischen Wandels auseinander. Den Initiativen in Politik und Wirtschaft, die sich heute bereits mit der Bedeutung der IuK-Technik für die alternde Bevölkerung beschäftigen, werden weitere folgen. So unterstützt z.B. das Bundesforschungsministerium für die nächsten drei Jahre verschiedene Initiativen mit insgesamt 145 Mio. Euro.
Bei den Initiativen in diesem Feld geht es grundsätzlich darum, Technik zu entwickeln, die die Senioren mit ihren spezifischen Bedürfnissen und körperlichen Einschränkungen gut in das alltägliche gesellschaftliche Leben integriert. Diese integrativen Initiativen verfolgen üblicherweise einen umfassenden, nicht-separierenden Ansatz. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten zielen sie sowohl auf den körperlich eingeschränkten hilfsbedürftigen Senior, als auch auf den gesunden älteren Mitarbeiter im Unternehmen.
Initiativen entdecken den Senior
Die Initiativen, die sich mit dem demografischen Wandel beschäftigen, sind vielfältig und reichen von Fachmessen, über Forschungsinitiativen bis hin zu wirtschaftlichen Förderprogrammen:
- Beispiele für Fachmessen sind der Silvers Summit der International Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas, Die 66 in München oder die 55plus an wechselnden Standorten in Nordrhein-Westfalen.
- Beispiele für Forschungsinitiativen sind das Schwerpunktprogramm Altersdifferenzierte Arbeitssysteme der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die Forschungskooperation Smart Senior von mehr als 20 Instituten (u.a. der TU Berlin) oder das Forschungsprojekt „Moderne Technik und Alter“ der Berliner Charité.
- Beispiele für wirtschaftliche Förderprogramme sind das AAL Joint Programme der EU, das Programm Das intelligente Heim des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend oder das bayerische Forschungsprojekt Fit4Age.
Senioren sind keine Technikverweigerer
Ein weit verbreitetes Vorurteil beschreibt Senioren als grundsätzlich ablehnend und reserviert gegenüber moderner Technik. Diesem Bild kann mit der Beobachtung entgegen getreten werden, dass es heute immer mehr Senioren gibt, die einen wesentlichen Teil ihrer täglichen Zeit mit moderner Technik verbringen. Dies gilt umso mehr, wenn die IuK-Technik preisgünstig ist und für den älteren Menschen einen unmittelbaren Nutzen eröffnet, wie z.B. für den Orientierungsassistenten, der Demenzkranke mit Orientierungsstörungen bei einer selbstständigen Lebensführung unterstützt.
Auch heute nutzen Senioren das Internet seltener als jüngere Menschen. Gleichwohl ist im Zeitablauf die Zahl der Senioren im Internet spürbar gewachsen: So ist bei den 60- bis 79-Jährigen mittlerweile jeder Dritte online – in den meisten Fällen sogar per schneller DSL-Verbindung. Laut ARD/ZDF-Online-Studie nutzen Senioren das Internet vorrangig zur Informationsfindung (z.B. Produktinformationen mit Preisvergleich) und zum Senden und Empfangen von E-Mails.
Im Alltag dürfte die moderne IuK-Technik immer bedeutender werden. Zunehmend mehr Senioren bringen aus ihrer beruflichen Tätigkeit zumindest Grundkenntnisse im Umgang moderner IuK-Technik mit. Auf dieser Basis können sie dann aufbauen und sich recht schnell mit verwandten Technikfeldern vertraut machen. So steigt z.B. der Anteil der über 55-jährigen Internet-Nutzer an allen Internet-Nutzern kontinuierlich. Mit dieser größeren Nähe zur Technik wird die Hürde für den Einsatz weiterer moderner IuK-Technik sinken.
Gesunde Mitarbeiter bleiben länger
Das Statistische Bundesamt prognostiziert, dass die Erwerbsbevölkerung in Deutschland bis 2060 von derzeit 50 Mio. auf etwa 33 Mio. schrumpfen wird. In diesem großen gesellschaftlichen Wandel kann die moderne IuK-Technik einen wesentlichen Teil dazu beitragen, unseren Wohlstand zu sichern.
Die Technik bewirkt zum einen, dass die Produktivität der Erwerbstätigen steigt. Zum anderen hilft sie bei steigendem Renteneintrittsalter, die Arbeitsplätze besser an die Bedürfnisse der älteren Mitarbeiter anzupassen. Somit trägt die Technik dazu bei, dass in der Volkswirtschaft die Gruppe der Erwerbstätigen langsamer schrumpft.
Moderne IuK-Technik ist vielfältig einsetzbar. Die Möglichkeiten reichen von der Robotik, die in der Fertigung Kräfte zehrende Tätigkeiten erleichtert, über Bildschirme mit altersgerechter Darstellung in Büros bis hin zur Informationstechnik, die Telearbeit ermöglicht.
Im Wettbewerb um die Erwerbstätigen gewinnen die Unternehmen mit flexiblen Arbeitsformen, die die Umstände der Erwerbstätigkeit besser an die individuellen Präferenzen des Mitarbeiters anpassen. Im massiven demografischen Wandel werden sich immer mehr Unternehmen vom starr definierten tradierten Normalarbeitsverhältnis verabschieden und auf die über die IuK-Technik eröffneten neuen Möglichkeiten zurückgreifen. Hier wird die alternierende Telearbeit (örtlicher Wechsel zwischen betrieblichem und heimischem Arbeitsplatz) besonders bei erfahrenen älteren Mitarbeitern immer bedeutender – insofern der Tätigkeitsbereich und die individuelle Arbeitsorganisation grundsätzlich zum Konzept der Telearbeit und zur Unternehmensstruktur passen (vgl. Stefan Heng: Technik und Arbeit. Herausforderungen im 21. Jahrhundert. E-conomics 27 (2002)).
Zielgruppe kaufkräftiger Nachfrager
Die wachsende Gruppenstärke, die recht hohen Vermögensbestände und die vorhandene Kaufkraft machen die Senioren zur interessanten Zielgruppe – nicht zuletzt eben auch für die IuK-Branche.
Der Konsum der über 60-Jährigen beläuft sich aktuell auf gut 300 Mrd. Euro; dies entspricht einem Drittel des gesamten Konsums in Deutschland. Auf die Gruppe der über 50-Jährigen entfällt in Deutschland bei einzelnen Gütergruppen wie Nahrungsmitteln, Bekleidung und Reisen bereits die Hälfte der Konsumausgaben. Bis 2030 dürfte diese immer stärker wachsende Altersgruppe dann sogar drei Fünftel des gesamten Konsums ausmachen.
- Warum die Informations- und Kommunikationstechnik gute Chancen hat, zu den Gewinnern dieser Entwicklung zu zählen, setzt Teil 2 dieser Serie auseinander.
Nützliche Links
Diesen Beitrag gibt es bei DB Research als PDF zum Download (auch in englischer Sprache).