Mehr als die Wirklichkeit
Von Reinhard Weber, Webteam GmbH
Die Revolution unserer Welt steht kurz bevor, wenn man den Auguren glaubt. Mit Augmented Reality (AR) wird alles anders, sagen sie. Nicht nur unser Umgang mit Computern, mit digitaler Information wird sich ändern. Nein, unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst wird in neue Bahnen wechseln. So anmaßend das klingt: Es könnte was dran sein an dieser Prognose.
Denn ganz einfach nahe liegend und überzeugend sind die Konzepte der „angereicherten Wirklichkeit“, wie Augmented Reality übersetzt heißt. Die Grundidee ist einfach: Die Wirklichkeit – etwa das Bild einer Digitalkamera – wird durch digitale Information ergänzt: durch Texte, Bilder, Sound und Videos oder gar animierte Kunstfiguren, die als Moderator oder Dienstleister auftreten.
In der schönen neuen Wirklichkeit erhält der Bergwanderer zum Gebirgspanorama gleich die Namen der Gipfel eingeblendet, der Tourist bekommt vom virtuellen Reisebegleiter zur Schlossfassade Ereignisse und Jahreszahlen genannt, der Ortsunkundige sieht im Stadtviertel die nächsten Bus- und U-Bahnhaltestellen als Navigationspunkte eingeblendet, der Ingenieur an der Maschine Soll-Werte und Konstruktionsdetails.
Schauplatz InsideAR
Die Frage stellt sich: Warum soll sich die Wahrnehmung unserer Welt gerade jetzt revolutieren? Bis vor kurzem fristete die AR-Branche noch ein eher bescheidenes Nischendasein mit 21 Mio. US$ Umsatz im Jahr 2010. Nun will sie es bis 2016 auf satte 3 Mrd. US$ bringen – so zumindest die Prognose auf der Fachkonferenz InsideAR, die sich inzwischen zur größten Augmented-Reality-Veranstaltung weltweit entwickelt hat.
Dort gab sich die Branche sicher: AR ist dabei, das Ghetto der hoch spezialisierten Industrieanwendungen zu verlassen und die Consumer-Welt im Sturm zu nehmen. Denn mit der explosionsartigen Verbreitung von Smartphones und mobilen Geräten wie dem iPad stehen plötzlich die notwendigen Geräte in der breiten Masse bereit. Sie bringen alles mit, was eine AR-Anwendung braucht: eine Kamera für die Darstellung von Umgebung und Informationen, ein GPS-System und Bewegungssensoren zur Orientierung, dazu Rechenpower und Internet-Anschluss um Anwendungen auszuführen und entfernte Datenbanken abzufragen.
Tablets bieten mit ihrem größeren Bildschirm viel Platz für Spielereien – eine Auswahl davon kann man auf YouTube sehen (Quelle: Metaio 2011)
Und in der Tat sind die oben genannten Anwendungen bereits Wirklichkeit und allesamt etwa für das iPhone verfügbar. Unübersehbar prangen auch zunehmend QR-Codes auf Produktverpackungen, Werbeplakaten und sogar Zeitschriftenseiten, die ein Smartphone abscannt und dann via Browser zusätzliche Informationen bekommt.
Inhalte für die Wirklichkeit
Ein Anfang, mehr nicht. AR soll sich zum neuen Standard-Interface für Computer entwickeln und – so die Vision – „digitale Informationen zu einer natürlichen Erfahrung machen“, wie Thomas Alt es in seiner Keynote-Rede 2011 sagte. Alt ist CEO der Münchner Firma metaio, die als Veranstalter hinter der InsideAR steht und sich in den vergangenen zehn Jahren zu einem der führenden Technologieanbieter in Sachen AR entwickelt hat.
Mit zahlreichen Patenten versucht man das Abbild der Wirklichkeit immer besser zu erkennen und einzuordnen, um ganz ohne QR-Codes zu echten Landschaften, Produkten, Gesichtern die zugehörigen Informationen liefern zu können. Und selbstverständlich sind die Smartphones als Guckloch in die neue digitalisierte Wirklichkeit nur ein erster tapsiger Schritt: Schon sind Geräte in Sicht, etwa AR-Brillen, die einen viel natürlicheren Umgang erlauben. In den Labors arbeiten Forscher bereits an AR-Kontaktlinsen.
Doch Technik alleine reiche nicht, so Alt weiter. Erst wenn sie sich mit den richtigen Inhalten präsentiere, entstehen wirklich nützliche Anwendungen. Und Nützlichkeit – neudeutsch: usefulness – hält er für den entscheidenden Erfolgsfaktor von AR.
An Szenarien dafür mangelt es auf der InsideAR nicht, sie kommen aus allen Bereichen: Marketing, Verkauf, Transport, Lernen, Spiele, Kommunikation, soziale Vernetzung.
Wem gehört die Werbung?
„E-Commerce everywhere“ ist ein solches Szenario: Wer künftig irgendwo ein Produkt in die Hand nimmt – egal wo – soll sich über AR weiterführende Informationen holen können, Kochrezepte etwa bei einer Packung Nudeln. Oder vergleichende Daten bei technischen Geräten, Videos mit Einsatzszenarien oder Konfigurationsbeispielen, Preisvergleiche und Kommentare von anderen Käufern. Natürlich wird auch der Bestellbutton für den Online-Kauf in Reichweite eingeblendet.
Die Ideen reichen noch weiter: So machen sich Agenturen Gedanken, wem die Werbeflächen in der virtuellen Welt denn nun gehören, und wer bereit ist, dafür an wen zu zahlen.
Wenn die Spielindustrie in die Zukunft blickt, dann erleben passionierte Gamer ihre Abenteuer in freier Wildbahn, wo Mitspieler oder Zombies hinter der nächsten Hausecke lauern.
Facebook-Skeptiker mögen erschauern angesichts der möglichen Koppelung von AR und sozialen Netzen. „Du kommst auf eine Party“ – so ein Szenario – „und AR blendet dir zu jedem Gesicht auf Wunsch Profil, Freunde und Bilder ein – aus den letzen zehn Jahren.“ Willkommen in der Augmented World!
Fazit: Sie werden Augen machen
Ganz so weit sind wir noch nicht. Die Technik stößt noch unübersehbar an Grenzen. So manche Demo endete auf der InsideAR im Absturz, mal ließen die Ergebnisse allzu lange auf sich warten oder waren ganz einfach zu schlicht, um nützlich zu sein. Doch wer die Anfänge von Technologien wie Computergrafik und Online-Diensten erlebt hat, weiß, wie schnell sich scheinbar Lächerliches in Übermächtiges wandeln kann. Noch vor zehn Jahren hätte niemand ein iPhone überhaupt für möglich gehalten.
Eine Demo-Anwendung mit Smartphone und AR-Browser platzierte z.B. via AR das anschauliche 3D-Spielzeug zur Begutachtung auf seine Packung. Mit neuen Werkzeugen ist eine solche Anwendung mit wenig Aufwand zu realisieren, und da wird mancher Vermarkter schon heute ernsthaft Kosten und Nutzen abwägen.