Prognosen

Die Tentakel stehen auf Sieg

Von Oliver W. Schwarzmann

Tierorakel sind als Prognosemethode in unserer modernen Zeit eigentlich ins Hintertreffen geraten, gibt es doch heute scheinbar seriösere Methoden, die Zukunft vorherzusagen. Mit Statistik, Empirie und Extrapolation sucht die Wissenschaft kommende Geschehnisse vorherzuberechnen; variable, aber doch wiederkehrende Muster sollen den Weg in die Zukunft weisen.

Die Ergebnisse sind insbesondere in der Wirtschaft eher von gemischter Natur: Zwar lassen sich bestimmte makroökonomische Entwicklungen ganz passabel einfangen, doch die Welt ist mittlerweile derart dynamisch und komplex geworden, dass Vorausberechnungen zunehmend den hellseherischen Dienst versagen, Tendenz steigend. Nicht nur das: Hochrechnungen setzen auf vergangenheitsbezogene und mengenmäßig relevante Daten – für völlig neue oder gar einmalige Entwicklungsphänomene, wie etwa die Finanzkrise, sind Extrapolationen nicht gewappnet.

Doch damit will sich der vorwärtsstrebende Mensch nicht zufrieden geben, schließlich möchten wir wissen, was uns erwarten (könnte), wollen planen und unsere Risiken kennen.

Kommt eine Renaissance der Tierorakel?

Da kommt ein Oktopus aus Oberhausen gerade recht – Krake Paul hat die Ergebnisse der Fußballweltmeisterschaft 2010 richtig getippt. Und mehr Beweis braucht es nicht – Tierorakel sind wieder im Kommen!

Setzen Politik und Wirtschaft also zukünftig auf die Kraft des Oktopus? Stehen in Forschungsinstituten und Firmenzentralen bald riesige Aquarien? Wird die Sonntagsfrage nicht mehr einer Auswahl repräsentativer Testwähler, sondern den geheimnisvollen Geschöpfen der Tiefsee gestellt? Vielleicht sind Mollusken in der Lage, das irrationale Verhalten des Menschen zu durchschauen? Womöglich werden die Wirtschaftsweisen in Kürze durch Tintenfische ersetzt?

Gut, man mag Tieren ein außergewöhnliches Gespür für Veränderungen in ihrer Umwelt beimessen. Und sicherlich gibt es sensible Lebewesen mit einer Art sechstem Sinn. Schließlich konnten Fauna und Flora in rund 3 Mrd. Jahren ihre Fähigkeiten trainieren. Selbst der Mensch, der in Sachen Vorahnungen eher als unsensibel und rational gilt, lebt grundsätzlich immer ein Schrittchen in der Zukunft – die zuständige Gehirnregion ist bereits vor dem Ausführen einer bestimmten Handlung aktiv! Zudem sind wir des vorausschauenden Denkens und des Weitblickes durchaus fähig, wenn wir es denn wirklich wollen.

Doch die Zukunft – sorry, Paul – lässt sich nicht wirklich vorhersehen. Zumindest will ich nicht daran glauben.

Prästabilisiert oder unscharf

Nur eine bereits feststehende Zukunft wäre wirklich prognostizierbar. Das Wissen dieser Vorhersage wäre allerdings nutzlos; wir könnten nichts damit anfangen, denn die Zukunft stünde ja unumstößlich fest. Und: Eine unbeeinflussbare Zukunft raubte dem Menschen das kreativste Element seiner Existenz – die Möglichkeit des freien Willens!

Auch die Vorhersage einer völlig freien Zukunft wäre sinnlos, denn egal, wie wir dieses Wissen auch einsetzten, es käme ja immer anders. Auch für eine Zukunft, die auf Geschehnisse der Gegenwart reagiert, wären Prognosen ohne Belang; jeder Einsatz dieser Informationen in der Gegenwart würde ja die Zukunft verändern – und die Vorhersage ad absurdum führen.

Fazit: Selbst Berge versetzen

Nun, Prognosen sind jedoch nicht wertlos – sie sind Politik. Vorhersagen können das gegenwärtige Bewusstsein verändern, den Blick für die Zukunft schärfen, Orientierung bieten und Entscheidungsprozesse beschleunigen. Wird die Vorhersage total verinnerlicht, kann sie sogar zum Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung führen. Eine starke Kraft, gewiss; vor allem dann, wenn wir sie ungezwungen nutzen, denn unsere Vorstellungen erfüllen sich in einer vielschichtigen Welt nicht isoliert. Für ihre dynamischen Wechselwirkungen sollten wir offen bleiben.

Tja, bei aller Verblüffung und dem hohen Unterhaltungswert von Orakeln zum Trotz, behält sich die Zukunft ihre Eigenwilligkeit vor.

Was gut ist.

So haben wir die Chance, die Welt selbst zu gestalten.

Nützliche Links