IT-Arbeitswelt 4.0: Wie die Zukunft der Arbeit in der IT aussieht

Was unkonventionelle Arbeits­konzepte betrifft, war die IT-Branche schon immer Vorreiter. Schließlich sind es gerade die techno­logischen Möglich­keiten, die Beschäftigte zeit- und orts­unabhängiger arbeiten lassen. Allerdings besteht die Gefahr, dass wir die neuen Freiheiten teuer erkaufen.

Das Selfie in der Karriere-Timeline

Von David Schahinian

Es war ein Major Release: Der Begriff Industrie 4.0 entstand im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung und wurde 2011 auf der Hannover Messe erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Versionsnummern haben es längst in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft, wann immer etwas tatsächlich Neues, Fortschrittliches oder einfach nur gerade Angesagtes benannt werden soll. Da die Digitalisierung aber nicht nur die Industrie erfasst hat, entwickelte sich daraus das „Arbeiten 4.0“ – als Vision und Gegenentwurf zum klassischen 9-to-5-Job. Oder, noch umfassender: New Work. Das Konzept der Neuen Arbeit stammt von dem Philosophen Frithjof Bergmann und sieht eine Dreiteilung der Lebensarbeitszeit vor: ein Drittel Erwerbsarbeit, ein Drittel Selbstversorgung und ein Drittel Berufung – sprich: Arbeit, die man einfach gerne macht.

Wichtiger als Begriffsabgrenzungen ist jedoch, wie die Arbeitswelt von morgen konkret aussehen kann und soll. IT-Fachkräfte sind mit dieser Fragestellung seit Langem vertraut, denn sie befinden sich quasi traditionell im Spannungsfeld zwischen festem Office-Job und kurzfristiger Nothelferrolle. In ihrer Branche spielen Präsenzarbeit und Büroklischees seit jeher eine kleinere Rolle als in anderen Berufsfeldern. Berichte über besonders „coole“ Arbeitsbedingungen in jungen Unternehmen gibt es zuhauf. Hinzu kommt, dass viele als Freiberufler in temporären Projekten tätig sind. Das bietet ihnen viele Freiheiten, setzt aber auch ein großes Maß an Selbstorganisation und Disziplin voraus. Neue Arbeitsformen wie Crowd- oder Clickworking führen zu einer weiteren Entgrenzung. Gleichzeitig drohen bei der Aufsplitterung, Globalisierung und Dynamisierung des Arbeitsmarkts wichtige Schutzrechte unter die Räder zu kommen.

Die IT im digitalen Wandel

Die gute Nachricht: Von dem Horrorszenario, das viele andere Branchen aufgeschreckt hat, bleiben Informatiker in aller Regel verschont. Eine Studie der ING-DiBa hatte die Folgen der Automatisierung auf den deutschen Arbeitsmarkt untersucht. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass in den nächsten 10 bis 20 Jahren 18,3 Mio. Arbeitsplätze wegfallen könnten. Büro- und Sekretariatskräfte sind danach am stärksten von dieser Entwicklung bedroht. „Dass vor allem der IKT- und Informatikbereich nur einem geringen Risiko ausgesetzt ist, ist nicht verwunderlich“, heißt es dort weiter.

Allerdings gebe es auch hier Berufe, die leichter automatisiert werden können als andere, beispielsweise in der IT-Organisation. Prognostiziert wird jedoch vor allem eine Umschichtung in Richtung IT-Tätigkeiten. Das bedeute aber auch, dass die Anforderungen an die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit vieler Beschäftigter wachsen, denn „für den Einzelnen kann der technologische Umbruch durchaus mit hohen negativen Kosten verbunden sein.“

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Schwarz auf Weiß
Dieser Bei­trag erschien zuerst in unserer Magazin­reihe „IT & Karriere“. Einen Über­blick mit Down­load-Links zu sämt­lichen Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Es wird darauf ankommen, ob sich IT-Fachkräfte über ihre eigenen Ziele und Motivationen im Klaren sind. Und ob sie den Wandel als Chance oder als Bedrohung begreifen. Für beides gibt es gute Argumente. Auf der Habenseite stehen unter anderem größere Handlungsspielräume, abwechslungsreichere Aufgaben sowie die Möglichkeit einer weitgehend selbstbestimmten Lebensgestaltung. Doch viele Experten weisen auch auf steigenden psychischen Druck bis hin zur Gefahr der Selbstausbeutung hin. Zudem bröckelt bei zeit- und ortsunabhängigem Arbeiten der soziale Kitt. Wenn der Schwatz an der Kaffeemaschine entfällt, leiden darunter auch menschliche Beziehungen und die soziale Kontrolle. Kaum einer bemerkt es mehr, wenn ein Kollege übermüdet seit 20 Stunden am Rechner sitzt.

Freiheit ist gut, aber in diesem Fall beileibe nicht alles. Informatiker sollten deshalb ein besonderes Augenmerk auf die Möglichkeiten zur Gestaltung ihres Arbeitsumfelds legen. So agil sind viele angehende Arbeitnehmer übrigens gar nicht, wie eine aktuelle Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO gezeigt hat: 96 % der befragten MINT-Studierenden ziehen eine unbefristete Festanstellung einer befristeten Anstellung, einer freien Mitarbeit oder der Selbstständigkeit vor. Eine deutliche Mehrheit ist aber auch dazu bereit, weitergehende Verantwortung für die eigene Arbeit und die Schaffung von geeigneten Arbeitsbedingungen zu übernehmen.

Neue Arbeit, neue Regeln

Natürlich müssen die Arbeitgeber am selben Strang ziehen. „In manchen Unternehmen gibt es bereits Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Management, die zumindest Teilaspekte der digitalen Umwälzungen regeln“, heißt es bei der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung. Auch einige Gewerkschaften, von denen viele in den letzten Jahren einen stetigen Mitgliederrückgang verkraften mussten, haben mittlerweile das Thema der neuen Arbeitswelt für sich entdeckt. Teilweise wurden dafür eigene Abteilungen gegründet oder Programme aufgelegt. „Faire, transparente Regeln sind nicht nur im Interesse der Beschäftigten“, sagt Dr. Manuela Maschke, Referatsleiterin der Stiftung. „Sie sind Voraussetzung für motivierte, selbstverantwortliche Arbeit, ohne die moderne Unternehmen gar nicht funktionieren können.“

Mögliche Diskussionspunkte sind die Erreichbarkeit und die Nutzung mobiler Geräte – und damit auch der Datenschutz. Heutzutage ist es ohne Weiteres möglich, beispielsweise Zugriffe und Bewegungen zu protokollieren. Das eröffnet völlig neue Möglichkeiten der Verhaltens- und Leistungskontrolle, die sich oft erst mit Betriebsvereinbarungen eindämmen lassen. Aber auch Grundlegendes wie die Arbeitszeit, der Gesundheitsschutz oder die Weiterbildung stehen zur Debatte. Maschke sieht durchaus Vorteile in den neuen Möglichkeiten – wenn sie verträglich angewendet werden. Der Nutzen des Arbeitens unabhängig von Zeit und Ort werde wachsen, „wenn die allgegenwärtige Erreichbarkeit eingehegt und über die vereinbarte Arbeitszeit hinausgehende Leistung auch bezahlt wird.“

Willkommen im Crowd-Prekariat!

Es gibt aber auch die anderen, die sich entweder notgedrungen oder durchaus selbstbestimmt an keinen Arbeitgeber binden wollen. Sie verkaufen ihre Arbeitskraft über IT-Projektbörsen oder sie versuchen, als Crowd- und Clickworker ein auskömmliches Einkommen zu erzielen. Auch diese Arbeitsformen sind erst durch die jüngsten technischen Entwicklungen möglich geworden. Während für Projekte meist spezielle Qualifikationen vorausgesetzt werden und das Matching ähnlich funktioniert wie bei der Stellensuche, liegt der Fall beim Rest anders. Das Heer der freien Mitarbeiter ist groß, und die Unternehmen können Arbeiten an kostengünstige Dienstleister auslagern, ohne große Pflichten einzugehen. Wie dann der Beschäftigte etwa für seine Sozialversicherungsbeiträge aufkommt, bleibt allein seine Sache.

Auch der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn gilt für die von der IG Metall geschätzten rund eine Million Clickworker in Deutschland nicht. Die Entwicklung könnte langfristig zu einer Bedrohung für alle IT-Beschäftigten werden, denn auch viele Festangestellte in guten Positionen konkurrieren längst mit Anbietern auf der ganzen Welt, die eine Leistung aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus oder flexiblerer Gesetze in ihren Heimatländern zu einem Bruchteil des hierzulande üblichen Preises anbieten können.

Änderungen sind zumindest absehbar: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles kündigte bereits 2015 ein Gesetz an, das die neuen Arbeitsformen in die Architektur der Sozialsysteme eingliedern soll – beispielsweise über eine Rentenversicherungspflicht für Solo-Selbstständige. Das Problem wird zumindest erkannt: „Im Bereich onlineplattformbasierter Dienstleistungen besteht ein hoher Diskussionsbedarf um faire Standards“, heißt es im Grünbuch Arbeiten 4.0 der Bundesregierung. Es wäre sicherlich hilfreich, wenn die vielen Einzelarbeiter Wege finden würden, sich besser zu organisieren und ihre Interessen gemeinschaftlich zu vertreten. Denn selbst eine gesetzliche Regelung dürfte enge Grenzen haben, gerade weil der IT-Arbeitsmarkt diese eben nicht mehr hat.

Die Bertelsmann Stiftung sieht das Spannungsfeld der Digitalisierung zwischen Ökonomie und der Chance, „altruistische, kollaborative oder vom Teilen geprägte Handlungsmaximen“ umzusetzen. Sie hat eine Proklamation zur Zukunft der Arbeit veröffentlicht, in der zahlreiche Experten und Praktiker zu Wort kommen. Zum Beispiel der selbstständige Management-Berater Guido Bosbach. Auch er glaubt, dass die derzeitige Gesetzgebung nicht auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt vorbereitet ist. Sie fokussiere auf die heute üblichen Arbeitsstrukturen, stehe damit aber der möglichen Entwicklung im Weg. Bosbach nennt dafür ein Beispiel: „Die Bildschirmarbeitsverordnung ist wenig dafür geeignet, flexible Arbeit zum Beispiel von einem Café, einem Coworking Space oder auch von Zuhause aus hilfreich und zielgerichtet zu unterstützen.“

Gefragt sein – und antworten

Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Wer die Prognosen, Studien und Einschätzungen aber aufmerksam liest, stößt immer wieder auf einige Kernpunkte. Einen davon erwähnt Bosbach ebenfalls: „Die Basis für die künftige Entwicklung bilden auf sehr individueller Ebene wir selbst. Die Nutzung unserer individuellen Talente, Potenziale, unserer Fähigkeiten und Kompetenzen ist die Grundlage eines neuen Entwicklungsraums.“

Gut ausgebildete IT-Fachkräfte haben Chancen, wie sie je kaum besser waren: Sie befinden sich inmitten eines Arbeitsumfelds, das sich rapide ändert und zu dessen Entwicklung sie selbst beitragen. Die Auswirkungen gehen weit über berufsspezifische Problemstellungen hinaus, die Digitalisierung hat längst viele Bereiche des täglichen Lebens erfasst. Die Herausforderung für sie ist, eine Position zu beziehen, ihren Weg und ihr Ziel zu kennen. Gegenüber Arbeitgebern können sie selbstbewusst auftreten und eine Vielzahl an Freiheiten einfordern – sofern sie ihren Teil zum Unternehmenserfolg beisteuern. Für die anderen deutet der Weg eher in Richtung Selbstunternehmer. Die Aufgaben werden diversifizierter, die Konkurrenz größer, die Arbeit internationaler. Das führt dazu, dass die Weiterbildung – oftmals auch als lebenslanges Lernen postuliert – einen noch größeren Stellenwert erhält.

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David Schahinian arbeitet als freier Journalist für Tageszeitungen, Fachverlage, Verbände und Unternehmen. Nach Banklehre und Studium der Germanistik und Anglistik war er zunächst in der Software-Branche und der Medienanalyse tätig. Seit 2010 ist er Freiberufler und schätzt daran besonders, Themen unvoreingenommen, en détail und aus verschiedenen Blickwinkeln ergründen zu können. Schwerpunkte im IT-Bereich sind Personalthemen und Zukunftstechnologien.

Meine Zukunft ist eine von vielen

Für das stetig anwachsende Heer der Crowd- und Clickworker könnte es künftig allerdings schwieriger werden. Ob und welche Rechte sie künftig erhalten, und wie diese durchzusetzen sind, ist derzeit noch völlig unklar. Es muss anerkannt werden, dass ihnen die einschlägigen Plattformen Möglichkeiten bieten, etwas hinzuzuverdienen – sei es, weil sie Spaß daran haben, oder weil sich ihnen derzeit einfach keine bessere Alternative bietet.

Aufgrund der geringen Komplexität vieler Aufgabenstellungen in diesem Bereich ist die Gefahr allerdings ziemlich groß, dass die Aufträge künftig verstärkt von zunehmend leistungsfähiger Hard- und Software abgearbeitet werden – und immer mehr potenzielle Arbeitnehmer um immer weniger Jobs konkurrieren. Es wird entscheidend sein, ob es den Beschäftigten gelingt, ihre Interessen zu artikulieren, und ob der Markt so weiterentwickelt werden kann, dass er gute Arbeit mit besserem sozialem und ökonomischem Schutz- und Sicherungsniveau bietet.

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