Tausend Gedanken und kein Blumentopf
Im Juli 2020 zeigt ein Blick auf das Insolvenzgeschehen in Deutschland die Ruhe vor dem Sturm. Kredite, Zuschüsse und andere Staatshilfen, die vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz verhindern vorerst flächendeckende Zahlungsunfähigkeit aufgrund der massiven Umsatzeinbrüche. Es ist aber zu erwarten, dass vielen Unternehmen auf absehbare Zeit trotz staatlicher Hilfen nur die Abwicklung bleibt. Worauf ist zu achten? Wie kann man sich vorbereiten? Ein Gespräch mit Axel Oppermann, der das Ärgste bereits vor der Corona-Krise hinter sich gebracht hat.
Im aktuellen Ratgeber sagt Axel Oppermann, wie sich Geschäftsführer am besten auf eine Insolvenz gefasst machen und dabei die Firma, ihre Assets und sich selbst schützen. Er skizziert außerdem, welche Maßnahmen es gibt, um unter Umständen die Insolvenz noch einmal abzuwenden. Woher dieses Wissen kommt, erzählt er offen im Interview: aus eigener Erfahrung.
MittelstandsWiki: Zwei GmbH, bei denen Sie als Geschäftsführer verantwortlich tätig waren, sind im Jahr 2019 in die Insolvenz gegangen. Warum?
Axel Oppermann: Über einen längeren Zeitraum waren die Ausgaben größer als die Einnahmen.
MittelstandsWiki: Machen Sie es sich hier nicht ein wenig einfach?
Axel Oppermann: Nein. Es handelt sich um eine sachzwangreduzierte Ehrlichkeit. Aber um die Frage befriedigend zu beantworten: Der Hauptgrund war eine massive Investition in eine selbst entwickelte Software- bzw. Datenbanklösung. Diese Investitionen haben mehr als die gesamten Erträge des Kerngeschäfts aufgefressen. Hinzu kam eine im Nachhinein gesehen schlechte bzw. fehlerhafte Finanzierung. Langfristige Investitionen wurden durch teils kurzfristige Kredite und den Cashflow aus dem Kerngeschäft finanziert. Hier hätte man eigentlich aus der Geschichte lernen können. Stichwort: Weimarer Republik.
Diese Form der Finanzierung führte zu einem Dominoeffekt: Aufträge brachen weg oder kamen verspätet. Zahlungen kamen verspätet. Vertragliche Verpflichtungen gegenüber Dritten, hier Banken, konnten nicht fristgerecht bedient werden. Dies führte zu Kündigungen der Kreditlinien. Die sich dadurch ergebenden Liquiditätsengpässe führten dazu, dass sich die Produktentwicklung verzögerte und Vertriebs- und Marketing-Kampagnen nicht planmäßig realisiert werden konnten. Und dies führte wiederum zu Verzögerungen beim Generieren von Umsatz. Und so weiter.
MittelstandsWiki: Für eine GmbH haben Sie die Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingeleitet. Für eine weitere wurde das Verfahren durch einen Dritten eingeleitet. Wie haben Sie von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfahren?
Axel Oppermann: Durch einen Anruf des Insolvenzverwalters. Die entsprechenden Schriftstücke waren einen Tag später in der Post.
MittelstandsWiki: Wie haben Sie auf die Situation reagiert?
Axel Oppermann: Ob Sie es glauben oder nicht: Als der Insolvenzverwalter anrief, ist mir zunächst ein Stein vom Herzen gefallen. 18 Monate Kampf und Krampf waren zu Ende. Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, war ich seit vier, fünf, sechs Monaten zum ersten Mal für einen kurzen Moment frei. Jeglicher Druck war weg. Unbeschreiblich. Dieser Moment hat sich angefühlt wie eine Ewigkeit. War aber in Wirklichkeit wahrscheinlich weniger als eine Minute. Die neue Situation bedeutete nicht, dass alle meine Sorgen vorbei waren. Mitnichten. Es waren nur andere. Noch größere Probleme.
MittelstandsWiki: Warum?
Axel Oppermann: Erstens: Weil ich eine Verantwortung gegenüber Mitarbeitern und sonstigen Dritten hatte bzw. habe. Zweitens: Weil ich für einen Großteil der Fremdfinanzierung persönlich bürgte. Drittens: Weil ich mein Leben leben wollte. Viertens: Tausende von Dingen und Aufgaben mussten organisiert werden.
MittelstandsWiki: Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?
Axel Oppermann: Für einen kurzen Moment wollte ich es nicht wahrhaben. Habe mir tausend Gedanken gemacht, wie ich eine Lösung finden könnte. Ich musste einsehen, dass hier kein Blumentopf zu gewinnen war. Relativ schnell war ich dann verbittert und zornig. Ich gab allen anderen die Schuld. Kunden, die nicht rechtzeitig bezahlt hatten. Der Bank, die mich nicht verstehen wollte oder konnte. Mitarbeitern, die krank geworden waren und so das Projekt verzögert hatten. Der schwarzen Katze vom Nachbarn. Einfach allen. Nur mir nicht. Ich habe fast zwei Wochen mit Hass, Zorn und Selbstmitleid verschwendet.
MittelstandsWiki: Und dann?
Axel Oppermann: Ich begann, mich konstruktiv mit der Situation zu beschäftigen. Also nicht mehr nur zu reagieren, sondern zu agieren.
Einerseits habe in der harten Phase der Insolvenz, also in den sechs Monaten nach dem Insolvenzantrag, so ziemlich jeden Ratgeber gelesen. Zur Selbstmotivation. Zum Krisenmanagement. Zur Bewältigung von Schicksalsschlägen. Geholfen hat alles nichts. Mir ging es weiterhin schlecht. Die Erklärungen, Darstellungen und Übungen waren alle logisch. Die Schlussfolgerungen waren klar. Helfen konnte mir zu dem Zeitpunkt keiner. Entweder war die erzählerische Distanz zu groß. Beispielsweise, wenn Menschen, die heute saturiert sind, von ihren alten Problemen sprachen. Wenn die Erzählung aus einer sicheren Position heraus kam. Oder wenn Bilder skizziert wurden, wie „hinterher ist alles besser“.
Andererseits habe ich begonnen, einen neuen Plan zu entwerfen. Wie will ich leben? Wie will ich Geld verdienen? Wie gehe ich mit meiner Umwelt um? Das waren alles zentrale Fragen, die ich mir selbst beantwortet habe. Ich habe einen Plan entwickelt. Diesen passe ich noch heute wöchentlich an.
MittelstandsWiki: Was haben Sie aus der Situation gelernt? Was würden Sie anderen empfehlen, die in eine vergleichbare Situation geraten könnten?
Axel Oppermann: Auch wenn eine Insolvenz als ein drohendes Szenario präsent war, war ich auf den tatsächlichen Ernstfall – oder besser: Verteidigungsfall – nicht vorbereitet. Zwar waren Buchführung und Finanzplanung immer auf dem aktuellen Stand. Allerdings gab es exemplarisch keine detaillierte und differenzierte Bewertung der immateriellen Vermögensgegenstände, die über die normale buchhalterische Betrachtung hinausging. Ich hatte auch keinen konkreten Vorgehensplan mit Priorisierung von Aktivitäten. Das war sicherlich ein Versäumnis.
Ferner hatte ich zwar ein grundlegendes Verständnis für die rechtlichen Rahmenparameter. Das Detailwissen fehlte aber. Und da ich meine letzten liquiden Mittel dummerweise in das Unternehmen investiert hatte, fehlte mir das Geld für eine fundierte Rechtsberatung. Das war ein großer Fehler.
Ich kann jedem, der auf eine vergleichbare Situation zusteuert, folgende sieben Empfehlungen geben:
- Wenn eine Insolvenz zu erwarten ist, muss man sich aktiv auf die mögliche Situation vorbereiten:
- Alle Unterlagen aufbereiten.
- Kommunikation zu Mitarbeitern vorbereiten.
- Kommunikation zu den zentralen Kunden vorbereiten.
- Alles und jeden Schritt dokumentieren.
- Vorgaben bezüglich des Abflusses von finanziellen Mitteln bedenken.
- Handlungsfähigkeit sicherstellen.
- Nicht in Torschlusspanik weitere externe finanzielle Mittel auftreiben, für die man selbst haften muss. Also nicht noch mehr als Gläubiger für das eigene Unternehmen eintreten.
- Aufgaben und Themen systematisieren. Probleme und deren Konsequenzen Auf- bzw. Abzinsen. Also die Ist-Situation zu unterschiedlichen Zeitpunkten bewerten.
- Private Puffer für rechtliche Beratung einplanen.
- Private Puffer zur Sicherung der Familie einplanen.
- Bereits vor der Insolvenzphase planen, wie alternative Szenarien aussehen. Also: Wie geht es weiter? Was brauche ich dafür? Usw.
- Narrative für unterschiedliche Zielgruppen entwickeln. Für sich selbst. Für Familie und Freunde. Für Gegner im Verfahren.
Und was ganz wichtig ist: Verantwortung übernehmen.
MittelstandsWiki: Wie ist Ihre Situation heute? In welchem Stadium sind die Verfahren, wie geht es weiter?
Axel Oppermann: Da es sich um noch laufende Verfahren handelt, kann ich nicht auf Details eingehen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass ein Großteil der Sachverhalte geklärt ist. Bei einigen Punkten gibt es noch unterschiedliche Auffassungen. Gläubiger wurden oder werden befriedigt. Ein Urteil im Namen des Volkes ist ergangen. Kurzum: It is what it is!
MittelstandsWiki: Dann anders gefragt: Wie bewerten Sie das Thema Insolvenz heute?
Axel Oppermann: Wir müssen hier zwei Themenfelder unterscheiden: Insolvenz und Insolvenzverfahren. Kein Unternehmen existiert ewig. Insolvenzen gehören zum Schutz einzelner Interessensgruppen und der Allgemeinheit. Wer dauerhaft weniger Geld einnimmt als er ausgibt, egal aus welchem Grund, verschwindet vom Markt. Aus Makrosicht sind hunderte oder tausende Insolvenzen in einem Land wie Deutschland kein Problem. Aus Mikrosicht sind es harte Schicksalsschläge. An jeder Insolvenz hängen Existenzen.
Was Insolvenzverfahren und die Rolle bzw. die Rollenwahrnehmung einiger Beteiligter an sich angeht, so sind diese eindeutig überarbeitungswürdig. Vielleicht ergibt sich ja etwas, bedingt durch die derzeitige COVID-Rahmensituation.
MittelstandsWiki: Abschließend: Viele Insolvenzverwalter und Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass vielen Unternehmen 2020 ein Tod auf Raten droht. Dass signifikant viele Unternehmen binnen Jahresfrist in die Insolvenz gehen. Wie beurteilen Sie die Situation?
Axel Oppermann: Die Auswirkungen der Corona-Situation sind gigantisch. Das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz, das die Folgen der Situation unter anderem in Bezug auf das Insolvenz- und Gesellschaftsrecht mildern soll, wird in vielen Fällen die finale Entscheidung, namentlich eine Insolvenz, nur verschleppen und nicht verhindern. Dies wird spätestens sichtbar, wenn die zeitlichen Befristungen ablaufen. Ich gehe davon aus, dass wir in Deutschland gerade tausende lebende Tote produzieren. Aus Sicht des Staates und der Betroffenen sind die Maßnahmen mehr als sinnvoll. Es wird aber zu einer deutlichen Konsolidierung kommen. Tausende Unternehmen gehen in die Insolvenz. Und hunderttausende Arbeitnehmer werden, zumindest kurzfristig, den Job verlieren.
MittelstandsWiki: Herr Oppermann, vielen Dank für das Gespräch.
Axel Oppermann berät seit über 17 Jahren als IT-Marktanalyst Technologieunternehmen in Strategie- und Marketing-Fragen. Er arbeitet beim Beratungs- und Analystenhaus Avispador, schreibt für diverse Blogs, Portale, Fachzeitschriften und kommentiert in diversen Bewegtbildformaten aktuelle Themen sowie den Markt. Als Gesprächspartner für Journalisten und Innovatoren bringt Axel erfrischend neue Ansichten über das Geschehen der digITal-Industrie in die Diskussion ein. Seine vielfältigen Erkenntnisse gibt Axel in seinen kontroversen, aber immer humorvollen Vorträgen, Seminaren, Workshops und Trainings weiter. Seine Themen: Digital & darüber hinaus.
Ein juristischer Dreiteiler erläutert alles, was Unternehmer über das Insolvenzverfahren wissen müssen: Teil 1 erklärt die Prinzipien und listet die Antragsberechtigten nach Gesellschaftsform. Teil 2 geht die Abläufe im Einzelnen durch und bespricht die wichtigsten Stationen bis zum Schlusstermin. Teil 3 hat kompakt praktische Tipps für Insolvenzschuldner und -gläubiger parat. Daneben geben Schwerpunktbeiträge Auskunft darüber, was im Angesicht drohender Insolvenz zu tun ist, wie der Begriff der drohenden Zahlungsunfähigkeit gefasst ist, was Überschuldung heißt und welche Alternativen im Fall von Insolvenz durch Überschuldung noch offen stehen, was mit Lizenzen in der Insolvenz geschieht, welchen rechtlichen Status Gesellschafter im Insolvenzverfahren haben, wie das Verhalten in der Insolvenz die Abläufe beeinflusst und wie die Planinsolvenz in Eigenverwaltung (im Schutzschirmverfahren) funktioniert.