Industrie-4.0-Schrauber gelten als Messgeräte
Vom 3. bis 6. Juni 2014 findet in München die Automatica statt. Ein zentrales Thema der 6. internationalen Fachmesse für Automation und Mechatronik werden neben dem Ausstellungsschwerpunkt Servicerobotik die Möglichkeiten von Industrie 4.0 sein. Hier kommt u.a. der Schraubtechnik eine besondere Bedeutung zu. Jürgen Hierold von der DEPRAG SCHULZ GMBH u. CO. (Halle A6, Stand 310) zeichnet die jüngere Entwicklung nach und sagt, wohin sich die Trends zwischen Prozessoptimierung und Kosteneffizienz, technischer Sauberkeit und Flexibilität in der Produktion bewegen. Als langjähriger Vertriebsleiter kann er auf eine reiche Erfahrung zurückblicken: „Es kommen oft Druckluftschrauber zu uns“, sagt er, „die nach über 30 Jahren erstmals gewartet werden und bereits mehrere Millionen Verschraubungen hinter sich haben.“
MittelstandsWiki: Herr Hierold, wie sieht die Schraubmontage von morgen aus?
Jürgen Hierold: Um die aktuellen Trends in der Schraubtechnik bewerten zu können, muss man auch einen Blick in die Vergangenheit wagen. Mit Schraubtechnik und Automation beschäftige ich mich seit Ende der 1970er-Jahre. Ich kann also auf eine relativ lange Erfahrung zurückblicken. Die Schraubtechnik hat sich international unterschiedlich entwickelt. In Asien gelten andere Anforderungen als z.B. in den USA. Auf dem US-Markt haben sich bereits in den 1980ern Trends gezeigt, die in Europa erst später aufgetreten sind und umgekehrt.
MittelstandsWiki: Von welchen Trends sprechen Sie? Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Jürgen Hierold: Ich kann mich noch gut an die gesteigerte Nachfrage nach vollautomatisierten Montageprozessen erinnern. Um dem gesteigerten Qualitätsbewusstsein Rechnung zu tragen, sah man mit vollautomatischen Montageanlagen die Möglichkeit, rationell und prozesssicher zu arbeiten. Ganz einfach ausgedrückt: Dem Menschen unterlaufen manchmal Fehler und seine Arbeit ist – ohne zusätzliche Maßnahmen – nicht wiederholgenau. Die Möglichkeit, durch einen Roboter Fehlerquellen zu minimieren, ist natürlich verlockend. Vollautomatisierte Prozesse bieten Vorteile für die Prozesssicherheit und die rationelle Fertigung. Ich kann jedoch bei der kurzfristigen Veränderung von Faktoren, wie z.B. der Stückzahl, mit einer vollautomatischen Anlage nicht so flexibel reagieren wie mit halbautomatisierten und manuellen Prozessen.
MittelstandsWiki: Was heißt das? Ist der Trend zur vollautomatisierten Montage vorbei?
Jürgen Hierold: Diese Frage lässt sich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Vollautomatische Anlagen werden selbstverständlich nach wie vor eingesetzt. Aber tatsächlich sehen wir in den letzten Jahren auch einen Trend hin zum intelligenten Handarbeitsplatz, bei dem die Flexibilität des Menschen mit der Wiederholgenauigkeit der Prozesse zusammengeführt wird. Denn im Gegensatz zu heute war damals eine prozesssichere und wiederholgenaue Fertigung nur mit großem zusätzlichen Aufwand umsetzbar. Heute ist dies anders: Standardisierte, intelligente Module gewährleisten die Prozesssicherheit, weshalb es sich dann auch wieder lohnt, einen stückzahlflexiblen Handarbeitsplatz als Montagekonzept zu wählen.
MittelstandsWiki: Was sind das für standardisierte, intelligente Module?
Jürgen Hierold: Ein Beispiel für eine intelligente Komponente ist die Positionskontrolle in Verbindung mit Werkstückaufnahme und integrierter Sensorik. Damit wird die Arbeitssequenz vorgegeben, visuell dargestellt und der richtige Arbeitsablauf kontrolliert. Die Positionskontrolle basiert bei der DEPRAG auf Lösungsansätzen wie Positionskontrollstativen oder Portalen für die unterschiedlichsten Anwendungen. Zusammen mit Produkten wie dem MINIMAT-EC-Schrauber ist optimale Prozesssicherheit garantiert. Innerhalb des Leistungsbereichs der jeweiligen Spindel lassen sich Drehmomente, Winkelstrecken, Drehzahlen, Wartezeiten und Drehrichtung frei programmieren und an die Verschraubungsaufgabe individuell anpassen. Eine Drehmoment- und Drehwinkelerfassung gewährleistet die exakte Steuerung des Schraubenanzugs sowie die Dokumentation wichtiger Prozessparameter. Positionskontrollstativ und EC-Schrauber sind zusammen ein wirksames Mittel, um den Ablauf zu koordinieren. Der Schrauber lässt sich nur dann starten, wenn die gewählte Abfolge eingehalten wird.
MittelstandsWiki: Welche Trends sind momentan sonst noch zu beobachten?
Jürgen Hierold: Seit mehreren Jahren gibt es eine Entwicklung hin zu elektronischen Schraubwerkzeugen; sie werden bei Montagearbeiten immer häufiger eingesetzt. Welches Schraubsystem gewählt wird, hängt aber von verschiedenen Faktoren ab. EC-Systeme sind programmierbar und steuerbar und erfüllen die Dokumentationspflicht, die in der Montage von hochqualitativen Produkten für die Automobilindustrie erforderlich ist. Deshalb werden z.B. in der Airbag-Montage unsere sensorgesteuerten EC-Servoschrauber eingesetzt. Die Schraubfälle in der Automobilindustrie werden ja nach der VDI-Richtlinie 2862 in die Risikoklassen A, B und C eingeteilt.
MittelstandsWiki: Können Sie das bitte kurz erklären?
Jürgen Hierold: In Kategorie A fallen sicherheitskritische Schraubverbindungen, deren Ausfall eine Gefahr für Leib und Leben darstellt. Hier sind also höchste Prozesssicherheit und Zuverlässigkeit gefordert. Um die Mindestanforderungen dieser Kategorie zu erfüllen, ist eine Drehmoment-/Drehwinkelmessung und -steuerung über Sensorik vorgeschrieben.
Bei dem EC-Schrauber, der in Kategorie B eingeordnet wird, erfolgt die Drehmomentmessung und -steuerung über eine Motorstromauswertung.
In Kategorie C reichen dagegen Schraubsysteme mit mechanischer Abschaltung aus. Für so etwas passen die DEPRAG-Druckluftschrauber der MICROMAT- und MINIMAT-Serien, die weltweit zehntausendfach im Einsatz sind, und zwar für die unterschiedlichsten Montageaufgaben, z.B. bei Mobiltelefonen. Hervorzuheben ist die präzise mechanische Abschaltkupplung: Sobald das vorgegebene Drehmoment erreicht wird, trennt die Kupplung vom Antrieb. Die Standardabweichung dieser Schrauber beträgt ±3 % – ein noch immer ausgezeichneter Wert.
MittelstandsWiki: Sie schwelgen in Nostalgie …
Jürgen Hierold: Moment, so ist das nicht! Der Trend zum elektronischen Schraubwerkzeug ist ohne Frage berechtigt. Aber es ist eine Tatsache, dass Schraubsysteme mit Druckluftantrieb auch heute sehr oft verwendet werden. Dass der DEPRAG-Druckluftschrauber nach wie vor in diesem Maßstab zum Einsatz kommt, spricht für sich. Dabei ist selbstverständlich auch von der Verschraubung qualitativ hochwertiger Produkte die Rede.
MittelstandsWiki: Und welche Voraussetzungen müssen für Druckluftschrauber gegeben sein?
Jürgen Hierold: Prinzipiell bieten sich elektrischer Strom oder Druckluft als Antriebsmedium an. Es kommt auf die Eigenschaften und Kriterien an. Ein Kriterium ist die Flexibilität: Ändert sich in der Anwendung einer der Parameter Drehmoment, Drehwinkel, Drehzahl, Drehrichtung oder Einschraubtiefe, ist ein elektronisches Schraubsystem sinnvoll. EC-Schraubsysteme sind in den oben genannten Parametern frei programmierbar und Änderungen im Schraubablauf sind leicht umsetzbar. Bei gleichbleibenden Parametern ist dagegen ein pneumatisch betriebener Abschaltschrauber meist ausreichend.
Ein weiterer Punkt ist die Prozesssicherheit, die sich entscheidend auf Umfang und Kosten des Schraubsystems auswirkt. Die Anforderungen an die Prozesssicherheit müssen im Vorfeld klar definiert sein. Bei manchen Anwendungen reicht das Übermitteln von Signalen aus, bei anderen müssen alle Montageschritte genau dokumentiert werden. Dazu werden intelligente Schraubsysteme vorwiegend auf EC-Basis verwendet. Weitere Kriterien sind Drehmomentgenauigkeit, Betriebsdatenerfassung und statistische Prozesssteuerung. Um diese abzubilden, sind Schraubsysteme notwendig, die mit übergeordneten Prozessdatenspeicherungen kommunizieren können und die Dokumentationspflicht erfüllen. Hier bietet sich ebenfalls die EC- oder EC-Servotechnik an. Beide Systeme erlauben die Aufzeichnung der erreichten Drehmoment- und Drehwinkelwerte. So gesehen deutet alles auf die EC-/EC-Servotechnik hin. Allerdings muss man hier auch den Investitionsbedarf betrachten.
MittelstandsWiki: Sprechen wir also über Geld: Wie unterscheiden sich denn die Anschaffungskosten der EC-Schrauber von denen der Druckluftschrauber?
Jürgen Hierold: Entscheidet man sich für ein motorstromgesteuertes Schraubsystem, ist das fünfmal so teuer wie ein Druckluftsystem. Bei den sensorgesteuerten Schraubsystemen sind die Kosten sogar zehnmal so hoch. Die Kostendifferenz ist also groß und sollte bei der Auswahl berücksichtigt werden.
MittelstandsWiki: Nach den Anschaffungskosten kommen aber noch die Betriebskosten. Die sind bei Druckluft doch auch sehr hoch?
Jürgen Hierold: Natürlich ist Druckluft teuer. Aber das allein sollte nicht ausschlaggebend für die Systemwahl sein. Zur Beurteilung der Gesamtbetriebskosten dürfen Sie nicht nur das Antriebsmedium betrachten, sondern Sie müssen die Kosten über den gesamten Lebenszyklus durchrechnen. Im Übrigen ist gerade beim Verschrauben die effektive Einschaltdauer des Motors oft sehr gering, die tatsächlich verbrauchte Energie also viel geringer als es die nominalen Leistungsdaten vermuten lassen. Zu den Betriebskosten gehört außerdem der Wartungsaufwand. Druckluftschrauber können vom betriebsinternen Instandhalter einfach und günstig gewartet werden. EC-Schrauber benötigen in der Regel geschultes Servicepersonal und spezifische Messausrüstung.
Besonders gilt hervorzuheben: EC-/EC-Servoschrauber sind nicht nur Montagewerkzeuge, sondern auch Messmittel. Und Messmittel müssen, wenn sie nach EN ISO 9001/2000 eingegliedert sind, regelmäßig geprüft und kalibriert werden. Druckluftschrauber sind dagegen hochbelastbar im industriellen Dauereinsatz und unempfindlich gegen äußere Einflüsse. Es kommen oft Druckluftschrauber zu uns, die nach über 30 Jahren erstmals gewartet werden und bereits mehrere Millionen Verschraubungen hinter sich haben.
MittelstandsWiki: Wie sehen Sie denn die Zukunft? Welche Trends kommen auf uns zu?
Jürgen Hierold: Die Schraubmontage bleibt weiterhin herausfordernd. Der Trend zur Industrie 4.0 und damit die Vernetzung der gesamten industriellen Prozesse ist mit Sicherheit eine Herausforderung, die uns beschäftigen wird. Das Ausmaß ist noch nicht ganz zu erfassen, aber die Entwicklung zielt darauf ab, die Informatisierung der klassischen Industrien wie der Produktionstechnik voranzutreiben. Logistik, Lager, Einkauf – es gibt eine totale Vernetzung aller internen sowie externen Bereiche und Prozesse, in die Kunden oder Geschäftspartner integriert werden. Moderne Fabriken werden dadurch intelligenter, effizienter, wandelbarer und nachhaltiger. Damit die Vernetzung der Industrie funktioniert, sind Manufacturing Execution Systems (MES) für eine transparente Fertigung notwendig. Grundlage dafür ist eine lückenlose Erfassung der Maschinen- und Betriebsdaten (MDE/BDE). Wenn das alles funktioniert, dann hätten wir mit der Industrie 4.0 tatsächlich die vierte industrielle Revolution. Es bleibt spannend!
Das Interview führte Trixy Schmidt, freie Fachjournalistin.