Medizinische Informatik: Wer Krankheiten mit Daten heilt

Algorithmen erkennen Hautkrebs, KI faltet Proteine und Big Data ermöglicht neue Studienmodellierungen. Das Gesundheitswesen ist digital geworden, die Patientenakten ebenso wie die Diagnosen und die Forschungsmethoden. Entsprechend groß ist die Nachfrage nach Studienplätzen in der Medizininformatik.

Heilkunst mit Bits und Bytes

Von Michael Praschma

„Hinter uns steht nur der Herrgott“, so konnte ein deutscher Chirurg vor über 60 Jahren noch seine Erinnerungen betiteln. Heute steht hinter jeder ärztlichen Leistung – zumindest auch – ein gewaltiger digitaler Apparat, der praktisch alle medizinischen Bereiche durchdringt und zunehmend ungeahnte Möglichkeiten für die Gesunden- sowie die Krankenversorgung eröffnet. Medizinische Informatik ist das Fach, aus dem die heiß begehrten Experten für diesen hochgradig innovativen Bereich kommen.

Die Berufsaussichten für Medizininformatik-Absolventinnen und -Absolventen gelten als exzellent, der Arbeitsmarkt ist auf lange Sicht günstig für Bewerber. Die Einsatzbereiche sind breit gestreut: von Forschungseinrichtungen, Pharmaunternehmen über die IT-Abteilungen von Krankenhäusern bis hin zu vielen anderen medizinischen Institutionen und den Herstellern medizinischer Geräte. Auch im immer wichtigeren Sektor der häuslichen Pflege, wo elektronische Geräte eine wachsende Rolle spielen, hat die Medizinische Informatik ein Wort mitzureden.

So fand die Arztpraxis zur Informatik

Worum handelt es sich überhaupt? – Als etablierte Wissenschaft ist die Informatik gerade einmal gut ein halbes Jahrhundert alt. Im Kern geht es dabei um die automatische bzw. mathematische Erfassung von Informationen, also Daten. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die Qualität jeder medizinischen Versorgung davon abhängt, möglichst genau zu wissen, welche Faktoren Gesundheit und Krankheiten beeinflussen und welche Maßnahmen hilfreich sind. Doch ohne Daten keine evidenzbasierte Medizin. Unbestritten hat also die Informatik insbesondere seit der Digitalisierung gewaltige Fortschritte in der Bekämpfung von Krankheiten bis hin zur Gesundheitspolitik ermöglicht, auch wenn es berechtigte Kritik an einer einseitigen „Apparatemedizin“ gibt, vor allem wenn dabei die persönliche ärztliche Zuwendung quasi hinter dem Bildschirm verschwindet.

Der Weg von den ersten gedruckten Lehrbüchern der Heilkunde bis zur roboterunterstützten Operation, also die gesamte Geschichte der medizinischen Informatik im weitesten Sinne, sprengt hier natürlich den Rahmen. Doch interessant zu wissen ist, dass fast gleichzeitig in den USA erstmals ein Desktopcomputer zur Messwerterfassung und Datenverarbeitung für die Erstellung von Szintigrammen eingesetzt wurde (1969) und in Deutschland erstmals der Begriff „Medizinische Informatik“ in einem Fachaufsatz vorkam (1970). Bereits zwei Jahre später gab es den ersten Studiengang in diesem Fach. Doch schon in den 1950er-Jahren hielt die Computertechnologie Einzug in die Medizin, als die ersten Krankenhäuser in ihrer Datenverarbeitung, und zwar im Bereich Finanzen und Geschäftliches, von Rechenzentren versorgt wurden: Großrechner in klimatisierten Räumen, Magnetbandlaufwerke, Lochstreifenstanzer, das waren in etwa die damals modernsten Tools.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT & Karriere“ erschienen. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen Einzel­heften be­kommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

An die Patientenfront in den Arztpraxen drang der Computer allerdings zunächst noch eher zögerlich vor. Das Deutsche Ärzteblatt etwa konstatierte noch vor 20 Jahren: „Von einem stürmischen Aufbruch der Ärzte ins Informationszeitalter kann nicht die Rede sein.“ Lange Zeit spielten Kostenfragen dabei eine erhebliche Rolle: So musste 1985 der niedergelassene Praktiker für ein Einstiegssystem mit Systemeinheit, Bildschirm, 1 MByte (!) Arbeitsspeicher und 23 MByte Festplattenspeicher zuzüglich Anwendungssoftware bis zu 40.000 DM hinblättern. Immerhin, bis zum Jahr 2003 verwendeten aber doch schon 85 % der Ärzte in Deutschland einen Computer.

Heute hingegen helfen Vergleichsplattformen, z.B. die Top Ten der Praxissoftware 2024 am Medizintechnikmarkt zu finden, und eigene Institute bieten Beratung an bei der Frage, wann medizinische Software der Definition des Begriffs Medizinprodukt entspricht und entsprechend klassifiziert werden muss – nur zwei Beispiele von vielen, die für die Komplexität des Themas stehen.

Das breite Feld der Medizininformatik

Die Tätigkeitsfelder der Medizinischen Informatik sind so vielfältig, dass hier auch nur Platz für einige exemplarische Schlaglichter ist. Die Einsatzorte reichen von Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen und Gesundheitsbehörden über spezialisierte Software-Unternehmen, Krankenkassen und die Pharmaindustrie bis zu Herstellern und Anwendern medizintechnischer Geräte – neben Einrichtungen der Forschung und Lehre. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung dürften also eine Menge abwechslungsreicher Arbeitsplätze zu erwarten sein. Die folgende Darstellung typischer Tätigkeiten ist grob von „abstrakt“ nach „patientennah“ geordnet.

  • In Abstimmung mit medizinischem Fachpersonal Entwicklung medizinischer Studienmaterialien wie multimediale Anatomiebeschreibungen, Gerätesimulationen, virtuelle Operationen etc.;
  • Konzeption und Aufbau von Patienteninformationssystemen, Aufklärungs- und Prophylaxe-/Nachsorgeprogrammen;
  • Aufbau und Betrieb komplexer Informations- und Managementsysteme im Krankenhausbereich, von Terminvergaben über Dienstpläne bis zur Medikamentenbevorratung und Logistik, außerdem Entwicklung und Verwaltung medizinischer Datenbanken;
  • In leitenden oder selbstständigen Funktionen auch Marketing und Vertrieb von Medizininformatik-Lösungen;
  • Entwicklung einrichtungsübergreifender Netze zur Bild- und Befunddatenübermittlung, Belegungsbuchung, elektronischen Patientenakten sowie Rezeptausstellung usw.;
  • Entwicklung allgemein medizinischer Informationssysteme, um medizinische Daten zu verarbeiten und zu dokumentieren, z. B. planen und weiterentwickeln von Praxissoftware oder Aufbau wissensbasierter Systeme, um Diagnostik und Therapie zu unterstützen;
  • Entwicklung und Betreiben von Verfahren der Bild- und Signalverarbeitung, Erkennung von Mustern oder computerbasierter Therapieplanung, ‑überwachung und ‑durchführung z. B. in der Intensivüberwachung oder Telemedizin; hierzu gehört auch die computerassistierte Detektion (CAD) sonst schwer erkennbarer Details in bildgebenden radiologischen Diagnoseverfahren;
  • Installation und Programmierung medizinischer Instrumente bzw. Peripheriegeräte wie Monitore, Drucker, Scanner oder Kopierer, Laser, Röntgen, EKG und Computertomografen;
  • Entwicklung von Methoden der Augmented und Virtual Reality zur Unterstützung von Ärzten beim Einsatz medizinischer Instrumente.

Schwerpunktbeispiel medizinische Software

Software spielt praktisch überall in der Tätigkeit von Medizininformatikerinnen und ‑informatikern eine Rolle, sie ist aber in sich selbst in etliche Aspekte aufgefächert, die einen Eindruck davon vermitteln, womit man es im Berufsalltag zu tun hat – daher hier stellvertretend ein Überblick dazu:

Unterschieden wird bei medizinischer Software allgemein zwischen eingebauter (Embedded) und alleinstehender (Standalone) Software. Erstere ist ein Bestandteil medizinischer Produkte bzw. Geräte, Letztere stellt selbst ein Medizinprodukt dar und unterliegt daher bestimmten Regulierungsvorschriften. Die Klassifizierung weist eine Reihe von Grenzfällen auf, die aber strikt zu unterscheiden sind.

Medizinprodukte unterliegen in Europa den Regulativen MDR (Medizinprodukte) und IVDR (In-Vitro-Diagnostika). Die Norm IEC 62304 gilt für „Medizingeräte-Software – Software-Lebenszyklus-Prozesse“ und definiert Mindestanforderungen an Prozesse wie die Entwicklung und Wartung der Software. Weitere Normen und Leitlinien bestimmen z. B. die Konformität anderer Normen mit der IEC 62304 oder andere spezifische Anforderungen an medizinische Software.

Diese Materien sind derartig spezifisch, dass etwa Medizinprodukte-Herstellern von Unternehmen wie dem Johner Institut Seminare zu aktuellen gesetzlichen Anforderungen an die Software-Entwicklung angeboten werden, ferner Penetrationstests für die Sicherheit, Videotrainings für Audits.

Weitere Themen in diesem Bereich sind z. B. Regularien für Medizinprodukte, die maschinelles Lernen verwenden, spezielle Fragen der Softwarewartung oder Risk Management in Gesundheitseinrichtungen und anderen Softwarebetreibern, nicht zuletzt auch das Sicherheitsmanagement bei alten Systemen, sogenannten Legacy Devices.

Optimale Chancen durch ein MI-Studium

Das Studium der Medizinischen Informatik besteht in Deutschland seit 1972, damals als Diplomstudiengang eingeführt, und schließt heute mit dem Bachelor und Master ab. Der Masterabschluss ist Voraussetzung für eine Tätigkeit in Forschung und Lehre. Zentrale Studieninhalte sind medizinische Dokumentation, bildgebende Verfahren, wissenschaftliche Modellierung, Biosignalverarbeitung und Biometrie, computerunterstützte Detektion und E-Health.

Vorausgesetzt wird mindestens die Fachhochschulreife, teilweise ist in Deutschland der Zugang durch einen Numerus clausus beschränkt. Die Hochschulorte mit jeweils unterschiedlichen Abschlüssen verteilen sich auf das Bundesgebiet zwischen Rostock und Augsburg; auch Österreich bietet, etwa in Wien und in Graz, Studiengänge an. Außerdem finden sich Fern- und Online-Studiengänge – überwiegend von privaten Anbietern – auf dem Markt.

Querschnittsqualifikationen ergeben sich durch die enge Verbindung der Medizinischen Informatik mit der Medizintechnik (Medical Engineering); außerdem kann Medizininformatik als Spezialisierung oder Weiterbildung sowohl für IT-Experten als auch Beschäftigte im ärztlichen und pflegerischen Bereich herangezogen werden. Ein wachsender Qualifikationsbereich ist daneben der Einsatz künstlicher Intelligenz, z. B. für Simulation und Automatisierung intelligenten Verhaltens bei robotergesteuerten Operationen (Computer Assisted Surgery = CAS).

Eine Möglichkeit, seine Qualifikationen zu erweitern, besteht bereits in der Ausbildung durch die Kombination mit Biomedizintechnik oder die Einbettung der Medizininformatik z.B. in ein Studium der Informatik, Wirtschaftsinformatik oder Medizintechnik.

Beste Berufsaussichten

Absolventinnen und Absolventen der medizinischen Informatik, besonders solche mit guten Abschlüssen, haben derzeit und in absehbarer Zukunft beinahe die Qual der Wahl. Sie profitieren einerseits vom generell leer gefegten Arbeitskräftemarkt für IT-Experten, andererseits von der bereits erwähnten exponentiellen technologischen Entwicklung in ihrem Fach und der hohen Nachfrage nach Fachleuten, die mit innovativen Lösungen einem Gesundheitsbereich unter die Arme greifen können, der vielfach reformbedürftig ist.

Die Stellenangebote mit überdurchschnittlichen Gehältern finden sich hauptsächlich in Städten und Ballungsgebieten, aber auch an dezidierten Medizinstandorten. Neben tariflichen Einstufungen bei öffentlichen und halböffentlichen Anstellungsträgern sind bei freien Unternehmen nicht selten auch übertarifliche Angebote zu finden.

Die Verdienstmöglichkeiten sind freilich stark abhängig von der konkret ausgeübten Tätigkeit. Man kann aber durchaus mit Jahresgehältern deutlich jenseits der 50.000-Euro-Marke rechnen. Vorausgesetzt wird allerdings auch eine Reihe gut entwickelter Kompetenzen. So sollen Medizininformatiker neben soliden Englischkenntnissen und der Fähigkeit, analytisch und abstrakt zu denken, auch ein waches Interesse an Medizin allgemein, Genetik, Molekularbiologie sowie Statistik/Mathematik mitbringen. Auch interdisziplinär reibungslos kommunizieren zu können, ist ein Plus im Bewerbungsprofil.

Meine digitale Arzttasche

Wer seinem Interesse an Mathematik, Statistik und Informatik mit der Arbeit in der Medizin, Molekularbiologie oder Genetik einen besonderen Sinn verleihen will, liegt mit einer Ausbildung im Bereich Medizinische Informatik goldrichtig. Denn hier trifft er auf ein Betätigungsfeld, das zwei essenzielle gesellschaftliche Bereiche miteinander verknüpft: die sinnvolle Nutzung digitaler Informationen und den Dienst im Heil- und Pflegesektor.

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Michael Praschma ist Texter, Lektor und Redakteur. Er beherrscht so unterschiedliche Gattungen wie Werbetext, Direct Marketing, Claims, Webtext, Ghostwriting, Manuals oder PR. Außerdem treibt er sich – schreibend und anderweitig engagiert – in Journalistik, Non-profit-Organisationen und Kulturwesen herum. Seine Kunden kommen aus verschiedensten Branchen. Am MittelstandsWiki schätzt er die Möglichkeit, mit eigenen Recherchen auf den Punkt zu bringen, was Verantwortliche in Unternehmen interessiert. → https://praschma.com/

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