Vulkanier in Enterprise-Positionen
Von David Schahinian
Liebenswert, unheimlich intelligent, aber unbeholfen im Umgang mit anderen Menschen: Roy und Moss aus der TV-Serie „The IT Crowd“ und die Big-Bang-Theoretiker Leonard, Sheldon, Howard und Raj sind Prototypen des Nerds. Und auch wenn die vermeintlichen Macken für das Fernsehpublikum überzeichnet werden – wer ist nicht schon einmal einem Kollegen begegnet, der in seiner eigenen Quantenwelt zu leben scheint?
Umso erstaunlicher ist, welche Wandlung der Begriff „Nerd“ durchgemacht hat. Andreas Osterroth vom Bereich Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik an der Universität Koblenz-Landau hat sich der Verbreitung des Wortes im Deutschen anhand von Synchronfassungen angenommen und Erstaunliches herausgefunden. Lange Zeit wurde der Nerd fast durchgängig ins Deutsche übersetzt – gerne mit „Volltrottel“ oder „Idiot“. Seit 2009 stiegen die Nichtübersetzungsrate und zugleich auch das Vorkommen des Begriffs in den Printmedien sprunghaft an – in dem Jahr, als „The Big Bang Theory“ erstmals im deutschen Free-TV lief. „Interessanterweise wurde, da die Begriffe auf bekannte Charaktere aus Fernsehserien angewendet wurden, das Lexem im Deutschen so fast ausschließlich positiv konnotiert“, schreibt Osterroth im Sprachreport 3/2015.
Raus aus der Komfortzone
Nerds verkörpern ein eigenständiges Lebenskonzept. Fundiertes IT-Wissen allein reicht heute aber nicht mehr aus, um Karriere zu machen. „Unternehmen wollen mehr als IT-Nerds“, titelte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln vor Kurzem. Eine repräsentative Umfrage unter knapp 1400 Personalleitern und Geschäftsführern hat gezeigt, dass sich die Computerfreaks und der Rest der Belegschaft einander annähern müssen.
„Das Internet macht die Arbeit zeitlich flexibler, dezentraler und selbstständiger“, sagt IW-Arbeitsmarktexperte Oliver Stettes. Das ermögliche neue Formen der Zusammenarbeit, für die aber neben einem hohen Maß an Selbstorganisation vor allem auch Kommunikationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft gefragt sind. Firmen setzen dafür unter anderem auf altersgemischte Teams und systematischen Wissenstransfer – das Gegenteil also des vor sich hin codenden Geeks mit Star-Trek-Shirt, leerem Pizzakarton auf dem Tisch und USB-Raketenwerfer am Laptop.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Magazinreihe „IT & Karriere“. Einen Überblick mit Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Es sieht also tatsächlich so aus, als ob die Nerds ihre Komfortzone verlassen müssten. So ganz ist die Nachricht aber noch nicht bei ihnen angekommen. IT-Berufsstarter seien lieber versierter Spezialist statt Führungskraft, haben die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in Leipzig und das Karriereportal get in IT herausgefunden. Sie hätten beim Jobeinstieg zwar einen klaren Plan, doch sehe der anders aus als in den übrigen Berufsfeldern. Ziel sei weniger, sich hochzuarbeiten, sondern die Entwicklung von Fachkompetenz, sagt die Mehrheit der 1300 befragten Berufseinsteiger.
Wie groß der Wunsch bei den IT-Cracks ist, (noch) mehr Wissen anzusammeln, zeigt ein genauerer Blick auf die Zahlen der Berufsstarterstudie: 63 % gaben die fachlichen Entwicklungsmöglichkeiten als erstes Entscheidungskriterium für die Attraktivität eines Arbeitgebers an. Eine internationale Ausrichtung oder flache Hierarchien nannte nicht mal jeder fünfte Befragte.
Seid nett zu Nerds
Selbstbewusstsein und Vertrauen in das eigene Können sind offensichtlich groß: 97 % der noch in Ausbildung befindlichen Informatiker gehen davon aus, dass sie gute oder sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Zu Recht, wenn man die Zahlen des Branchenverbandes Bitkom betrachtet: Im September 2015 wurden demnach 43.000 IT-Spezialisten gesucht, im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um rund 5 %. Das ist nicht zuletzt eine Folge der Digitalisierung, führt Bitkom-Präsident Thorsten Dirks aus: „Unternehmen aus traditionellen Branchen werden zu Digitalunternehmen, die verstärkt entsprechende Kompetenzen benötigen.“
Erobern die Nerds am Ende also doch noch die Welt? Peter M. Wald von der HTWK Leipzig hebt zumindest hervor, dass der ausgeprägte Wille zur Spezialisierung in ihrem Fachgebiet „ein Alleinstellungsmerkmal von IT-Absolventen“ ist. Dazu passt, dass 24 % als primäres Karriereziel angeben, Experte im eigenen Bereich zu werden – und damit wie von selbst auch Chef. Schließlich soll schon Bill Gates gesagt haben: „Sei nett zu einem Nerd. Die Chance ist groß, dass du eines Tages für einen arbeiten wirst.“
Vielleicht aber auch nicht. So berichtete die FAZ beispielsweise von mehreren Studien, die darauf hindeuten, dass es den Nerds mittelfristig an den Pullunder-Kragen gehen könnte, wenn sie sich nicht auf andere einlassen. Der Grund sind nicht zuletzt ihre Lieblingsspielzeuge, die Computer, denn die können komplizierte Probleme zunehmend besser lösen. Bildungsforscher der Harvard University haben außerdem herausgefunden, dass es das größere Gehaltswachstum mittlerweile bei Menschen gibt, die mit Menschen umgehen können. Nach der Jahrtausendwende seien Social Skills immer wichtiger geworden. Zu ähnlichen Schlüssen kam schon ein Jahr zuvor die Ökonomin Catherine Weinberger von der University of California.
Das Universum da draußen
Nicht jeder Nerd kann wie Sheldon Cooper auf eine so verständnisvolle Nachbarin wie Penny zählen, die ihm ebenso charmant wie lehrreich Lektionen über das wahre Leben erteilt. Es gilt also, aus den Fehlern anderer zu lernen. Die Personalberatung Target People hat 200 Bewerbungsunterlagen und -gespräche von Digital Natives anonym analysiert und dabei vor allem drei Aspekte identifiziert, auf die Computerfreaks oft zu wenig Wert legen.
Bei der Kleidung fängt es an: Zwar ist ein Maßanzug keinesfalls Pflicht, aber viele erscheinen selbst zum Vorstellungsgespräch recht locker gekleidet. Ein Sakko mit Hemd sollte es schon sein, dazu Jeans und gute Schuhe. Klappt es mit der Stelle, kann man sich dann vielleicht größere Freiheiten erlauben.
Schwieriger dürfte es für eingefleischte Nerds werden, dem nicht-digitalen Bereich ausreichend Wertschätzung entgegenzubringen. Vor allem in Bezug auf klassische Unternehmensbereiche komme es häufig vor, dass weder Basiskenntnisse noch ein „entsprechend angemessenes Auftreten beim Bewerber“ sichtbar seien. Noch allerdings ist der Fluxkompensator nicht erfunden, die meisten Arbeitgeber sind nach wie vor auch auf klassische Vertriebswege und Kommunikationskanäle angewiesen.
Was häufige Jobwechsel betrifft, ist jedoch keine eindeutige Aussage möglich. Die Berater halten zwar eine sichtbare Konstanz im Lebenslauf für wichtig, IT-Experten sind in der Praxis aber oft flexibler als ihre Kollegen. Vor allem, wenn sie überwiegend an einzelnen Projekten arbeiten, und auch aufgrund der großen Auswahl an interessanten Positionen in den unterschiedlichsten Branchen. Es ist letztlich von den individuellen Karrierezielen abhängig, ob wiederholte Stellenwechsel als Vor- oder als Nachteil angesehen werden.
David Schahinian arbeitet als freier Journalist für Tageszeitungen, Fachverlage, Verbände und Unternehmen. Nach Banklehre und Studium der Germanistik und Anglistik war er zunächst in der Software-Branche und der Medienanalyse tätig. Seit 2010 ist er Freiberufler und schätzt daran besonders, Themen unvoreingenommen, en détail und aus verschiedenen Blickwinkeln ergründen zu können. Schwerpunkte im IT-Bereich sind Personalthemen und Zukunftstechnologien.
Unsere Absichten sind friedlich
Der Lebensstil von Nerds wird vielleicht von manchen belächelt, aber meist doch anerkannt. Arbeitgeber haben längst bemerkt, dass sie auf die raren hoch qualifizierten IT-Fachkräfte nicht verzichten können. Die Chance ist groß, dass deshalb auch die eine oder andere Unzulänglichkeit bei den sozialen Kompetenzen in Kauf genommen wird, sofern sie sich nicht negativ auf die Arbeit oder das Betriebsklima auswirkt. Eine Molekül-Halskette oder ein Sharknado-T-Shirt stören schließlich kaum jemanden und liefern ab und an sogar amüsanten Gesprächsstoff. Dass man damit aber durchs gesamte Berufsleben kommt, ist wohl eher unwahrscheinlich. Das bedeutet nicht, dass wahre Nerds sich untreu werden müssen. Sie sollten jedoch davon ausgehen, dass eine stärkere soziale Interaktion künftig zum Standardprogramm am Arbeitsplatz zählt – und das nicht nur bei Paintball-Gefechten.