Private Daten sind der Stoff neuer Geschäftsmodelle
Von Sabine Philipp
Vom 26. bis zum 28. März 2015 fand in der Grundig Akademie Nürnberg das zweite OpenUp Camp statt. Das ganz eigene Format ist eine Mischung aus Konferenz und Unkonferenz, bei der die Teilnehmer überlegen und ausprobieren, wie neue Technologien, Innovationen und Organisationsformen unsere Wirtschaft und Gesellschaft verändern. In der Podiumsdiskussion am Eröffnungstag (dem konferenzmäßigen Business Day) gingen die Teilnehmer der provokanten Frage nach, ob die Verletzung von Persönlichkeitsrechten die Entwicklung unserer Gesellschaft fördert.
Teilnehmer der Podiumsdiskussion waren Prof. Dieter Kempf (DATEV-Vorstandsvorsitzender und BITKOM-Präsident), Marie Wallace (Analytics Strategist bei IBM), die Psychologin Julia Altenburg (Lufthansa-Personalabteilung), die Kulturarchitektin Stefanie Krügl (Panoti, Insight Innovation und OpenBIT-Vorstand). Die Diskussionsleitung übernahm als Veranstalter des OpenUp Camps Tim Schikora, gleichfalls OpenBIT-Vorstand sowie Mitgründer und Geschäftsführer von Insight Innovation.
Hintergrund der Fragestellung ist, dass Big-Data-Technologien Unmengen von Daten sammeln, kombinieren und auswerten. Was einst ein Google-Privileg war, kann sich heute jeder Mittelständler als Appliance neben den Server stellen.
Online-Targeting, Zielgruppengröße: 1
Was die Menschen beunruhigt, liegt auf der Hand: dass die Industrie personenbezogene Daten für ihre Zwecke verwertet, etwa um zielgerichtet Waren zu verkaufen. Ebenso war in Nürnberg von Anfang an klar, dass viele Menschen ihre Daten freiwillig preisgeben. Dadurch erst können intelligente Algorithmen analysieren, welche Informationen eine Person in sozialen Netzwerken liest und welche Produkte sie danach kauft. Die gängige Praxis, diesen Nutzern in der Folge bestimmte Produkte online vorzusetzen, sei „eine klare Manipulation“. Es stellte sich die Frage, ob ein solches Verhalten verboten werden sollte. Zumindest, so der Tenor, sei das ein Aspekt, den wir in unserer Gesellschaft regeln müssen. Dass das nicht leicht ist, zeigte die weitere Diskussion.
Tim Schikora merkte an, dass es durchaus Menschen gebe, die gefunden werden wollten und entsprechende Angebote suchen. Es sei „unmöglich, einen allgemeingültigen Privacy-Leitfaden mit Regeln zu erstellen, weil jeder eine andere Sicht der Dinge hat.“ Prof. Kempf hielt fest, dass in den meisten Fällen gar nicht die Daten das Problem seien, sondern die Informationen, die hinter den Daten stehen. Und dass mit Kombinationen aus diesen Informationen bestimmte Profile erstellt werden könnten. Ein Beispiel: „Was war Ihre Reaktion, als Sie zum ersten Mal von der Rides of Glory Map gehört haben. Mein erster Gedanke war, dass das ein Streich von Studenten ist.“
Von der Angst, beim Seitensprung erwischt zu werden
Die umstrittene Taxi-Alternative Uber hatte Karten von einigen amerikanischen Großstädten erstellt – mit einem besonderen Schwerpunkt: Sie zeigten, aus welchen Gegenden Menschen vermehrt zu einem One-Night-Stand fuhren. Uber hatte sich seine Daten daraufhin angesehen, welche Kunden nachts in eine Gegend fuhren, in der sie vorher noch nicht waren, und gegen 7 Uhr morgens wieder nach Hause zurückkehrten. Die Daten waren anonymisiert, aber das Unternehmen zeigte, dass es in der Lage war, diese Art von Auswertungen durchzuführen. Prof. Kempf zeigte sich sehr verärgert, weil solche Fälle die Debatte anheizen.
„Die Frage ist, wie man die Firmen dazu zwingen kann, sich vertrauenswürdig zu verhalten“, kommentierte Marie Wallace – und nannte ein Experiment von Facebook, bei dem ein Teil der Nutzer vornehmlich die positiven Newsfeeds der Facebook-Freunde zu sehen bekam, während ein anderer Teil mehr die negativen Einträge zu sehen bekam. (Die Ergebnisse gibt es als „Experimental evidence of massive-scale emotional contagion through social networks“ bei PNAS online.) Die Bevölkerung erfuhr erst mit der Veröffentlichung von diesem Vorgehen, was große Empörung auslöste – nicht zuletzt deshalb, weil die Teilnehmer vorher nicht gefragt wurden.
Wer sammelt Daten? Und wem gehören sie?
Von Prof. Kempf wollte ein Zuhörer wissen, ob er unterschreiben könne, dass die Gesellschaft dieses Problem lösen muss – und nicht die Regierung. Kempf machte deutlich, dass er sich ein gesetzliches Rahmenwerk wünsche: „Trotzdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass auch das ausgeklügeltste Gesetzeswerk immer der Realität hinterherhinken wird. Es muss ein Bestandteil unserer Kultur sein; und vor allem muss es ein Bestandteil einer Unternehmenskultur sein, Transparenz zu schaffen.“
Ein anderer Teilnehmer fragte den BITKOM-Präsidenten, ob man beim Sammeln personenbezogener Daten danach unterscheiden müsse, wer sammelt: der Staat, ein Privatunternehmen oder die Wissenschaft? Prof. Kempf sah hier keine Notwendigkeit der Differenzierung. Entscheidend seien die Fragen nach Datentransparenz und nach dem Besitz der Daten. „Vor einiger Zeit gab es eine Diskussion über das Recht, vergessen zu werden. Ich würde lieber über das Recht diskutieren, die Kontrolle über meine Daten zu behalten.“ Er kritisierte, dass der Besitzer der Daten nicht kontrollieren könne, was mit damit passiert, und welche Art von Analysen durchgeführt werden.
Die Gegenfrage dazu kam prompt aus dem Publikum: Ob es einen Besitz von Daten überhaupt geben könne? Prof. Kempf erwiderte, dass dies rechtlich der Fall sei. Technisch würde er das eher verneinen. Und fügte an, dass diese Linie auch in der analogen Welt nicht leicht zu ziehen sei: Schon vor 20 Jahren, lange vor der digitalen Revolution, wurden vielerlei Daten z.B. über Hausbesitzer gesammelt und analysiert.
Einen formlichen Schluss fand dieser Diskussionsstrang in der Frage, welchen Nutzen derart große Datensammlungen überhaupt hätten. Ein Szenario: die Krebsforschung. Dort gelangt die Big-Data-Analyse z.B. zu optimalen Therapieoptionen.
Privacy als Tugend kompetenter Bürger
Anderes Thema: Datenerziehung. Viele Menschen wissen nicht, wie sie auf das Verlangen nach ihren Daten reagieren sollten, unter welchen Umständen sie zustimmen oder ablehnen sollten. Die Gesellschaft zu erziehen, ist aber nicht einfach und dauert seine Zeit. Marie Wallace sagte dazu, sie wolle nicht auf den ersten großen Datenunfall im Bereich Social Data warten und sie hoffe, dass die Gesellschaft aufwacht. „Wir müssen vorsichtig sein und sehen, was wir opfern. Und was wir im Gegenzug dafür erhalten. Im Augenblick ist der Gegenwert nicht sehr hoch.“ Prof. Kempf ergänzte: „Der Mensch hat viel mehr Angst vor dem, was passieren könnte, als vor dem, was bereits passiert ist. Wir haben Angst, dass die Möglichkeit eines Missbrauchs besteht.“ Es sei bekannt, dass Geheimdienste Daten sammeln. Und jedem, der denken könne, sei bewusst, dass diese Daten auch ausgewertet werden. „Wenn wir möchten, dass die Bürger der Idee von Big Data positiv gegenüberstehen, dann muss man ihnen positive Beispiele zeigen.“ Vertrauen sei sehr wichtig.
Rechtsrahmen für den Umgang mit privaten Daten
Er betonte in diesem Zusammenhang noch einmal, dass wir Regeln, ein Gesetzeswerk und einen Rahmen benötigen, der es uns ermögliche, schnell auf Veränderungen zu reagieren. Man müsste klar machen, dass nicht alles, was möglich sei, auch richtig ist. Und man müsste die Bürger aufklären. Die Antwort ließ nicht auf sich warten: „Bevor man damit anfangen kann, ein Regelwerk und einen gesetzlichen Rahmen zu definieren“, bemerkte ein Teilnehmer, „muss man doch erst einmal festlegen, was private Daten sind.“ Als Beispiel nannte er die Daten, die bei modernen Autos erfasst werden. Hier stelle sich die Frage, ob die Daten dem Fahrer gehören, dem Arbeitgeber, der ihn als Dienstwagen zur Verfügung stellt, dem Kfz-Hersteller oder dem Unternehmen, das die Daten ausliest, um seine Produkte zu verbessern.
Ein anderer Besucher kritisierte, dass „die in der Bundesregierung“ keine Ahnung davon hätten, was im Bereich Big Data geschehe. Prof. Kempf widersprach dem deutlich: In den Ministerien gebe es durchaus kompetente Fachleute; mit Frau Merkel habe man sogar eine Naturwissenschaftlerin als Kanzlerin, die sich sehr für Technologie interessiere.
Die Standards setzt der größere Markt
Als letzter Diskussionsschwerpunkt kam das Thema Industrie 4.0 auf. Marie Wallace erklärte, dass diese Diskussion in Großbritannien und in anderen Ländern weiter vorangeschritten sei. Prof. Kempf nannte andererseits eine Reihe von deutschen Herstellern, die führend in der Herstellung von Industrie-4.0-Komponenten sind. „Meiner Meinung nach sind wir hier besser aufgestellt, als die amerikanische, die britische oder die französische Industrie.“ Am Ende werde die Frage der Standards entscheidend sein.
Seiner Meinung nach liegt die Standardisierung jedoch nicht mehr in der Hand eines deutschen, europäischen oder eines internationalen Gremiums. Beispielhaft nannte er eine Entwicklung aus China: Dort ist es üblich, am Jahresende Verwandten einen roten Umschlag mit Geld zu geben (Hong Bao). Daraus entstanden Dienste, die diese roten Umschläge über das Smartphone verschicken. Im ersten Jahr wurden bereits 280 Mio. (!) elektronischer Hong Bao versendet. „Diesem Konsumentenmarkt gegenüber haben wir in Deutschland keine Chance über Standards zu sprechen“, so Prof. Kempf. „Dazu hat Deutschland nicht genügend Einwohner.“