Das Recht zur Lüge ist befristet
Von Sabine Wagner
Vor dem Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) konnte jeder Arbeitgeber beim Vorstellungsgespräch den Bewerber nach der Schwerbehinderteneigenschaft fragen. Und der Arbeitnehmer war verpflichtet, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.
Seitdem es das AGG gibt, ist umstritten, ob und in welchen Fällen eine solche Frage diskriminierend ist. Anders gefragt: Woher soll das Unternehmen wissen, ob es zu Recht oder Unrecht die Ausgleichsabgabe zahlt?
Sechs Monate Vertrauensbasis
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem Urteil vom 16. Februar 2012 (Az. 6 AZR 553/10) entschieden, dass der Arbeitgeber nach Ablauf der ersten sechs Monate der Beschäftigung des Arbeitnehmers berechtigt ist, diesen nach der Schwerbehinderteneigenschaft zu fragen. Zu diesem Zeitpunkt haben behinderte Arbeitnehmer bereits einen Sonderkündigungsschutz erworben.
Stellt sich heraus, dass der Arbeitnehmer die Frage wahrheitswidrig beantwortet hat, so kann er sich nach Ansicht des BAG in einem Kündigungsschutzprozess nicht mehr darauf berufen, schwerbehindert zu sein. Der Arbeitgeber ist in diesem Fall berechtigt, eine verhaltensbedingte Kündigung auszusprechen, da er das Vertrauen in den Arbeitnehmer verloren hat.
Sofern der Arbeitnehmer auf Grund seiner Schwerbehinderung die geschuldete Arbeitsleistung nicht ausüben kann oder darf, kommt auch eine personenbedingte Kündigung in Betracht. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn die Tätigkeit mit dem Heben schwerer Lasten verbunden ist, die der schwerbehinderte Arbeitnehmer nicht heben kann und darf.
Grundlagen im Arbeitsverhältnis
Leider hat das BAG noch nicht entschieden, ob die Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft bereits im Vorstellungsgespräch gestellt werden darf oder ob dies zumindest in solchen Fällen gegen das AGG verstößt, bei denen die Tätigkeit sowohl von dem schwerbehinderten Bewerber als auch von einem nicht behinderten Bewerber ausgeübt werden kann.
Solange das BAG nicht ausdrücklich entschieden hat, dass die Frage nicht gegen das AGG verstößt, ist es empfehlenswert, darauf zu verzichten, sie im Vorstellungsgespräch zu stellen. Stellen Sie aber jedem Ihrer neuen Mitarbeiter unmittelbar nach Ablauf der ersten sechs Beschäftigungsmonate schriftlich die Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft. Die Antwort hat zu Beweis- und Dokumentationszwecken ebenfalls schriftlich zu erfolgen.
Für das Unternehmen ist es wichtig zu wissen, ob einer (oder mehrere) der Arbeitnehmer schwerbehindert ist. Zum einen muss der Beschäftigte geeignet sein, die geforderte Tätigkeit auszuüben. Zum anderen muss man als Arbeitgeber wissen, ob eine Kündigung nur mit Zustimmung des Integrationsamtes möglich ist. Dies hängt wiederum davon ab, ob es sich beim betreffenden Arbeitnehmer um einen Schwerbehinderten handelt oder nicht.
Außerdem von Bedeutung: Schwerbehinderte haben Anspruch auf Zusatzurlaub (fünf Tage bei einem Arbeitnehmer der fünf Tage die Woche arbeitet), und es gibt besondere Fürsorgepflichten als Arbeitgeber zu beachten. So hat ein schwerbehinderter Arbeitnehmer einen besonderen beruflichen Förderungsanspruch, d.h. er ist so zu beschäftigen, dass seine Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwertet und weiterentwickelt werden.
Fazit: Rechtssicherheit schaffen
Schließlich müssen Arbeitgeber wissen, wer alles in ihrem Unternehmen schwerbehindert ist, um entscheiden zu können, ob das Unternehmen die Anzahl der Pflichtarbeitsplätze für Behinderte einhält oder eine Ausgleihsabgabe zu zahlen hat und, wenn ja, in welcher Höhe.
Aus diesen Gründen hat im vorliegenden Fall auch das BAG die Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers für unzulässig erachtet. Der Arbeitgeber hat nur so eine Chance, sich rechtskonform zu verhalten.