Smart Grids für Bayern: Wie der Netz­ausgleich durch Sektoren­kopplung gelingt

PV- und Biogasanlagen haben den Energie­mix im Flächen­land Bayern gewaltig ver­ändert. Hinzu kommt, dass der Süden den Strom ver­braucht, den der Norden pro­duziert. Die Strom­netze sind aber nur ein Segment der Energie­landschaft. Sektoren­kopplung und Smart Grids lauten derzeit die Schlüsselstrategien.

Bayern probt den Netzausgleich

Von Friedrich List

Aktuell verleiht der Klimaschutz dem Umbau des Energiesystems besondere Dringlichkeit. Die Energiewende soll zu einem echten ökologischen Versorgungssystem führen. In Bayern bemüht sich nicht nur die Politik um einen nachhaltigen Wandel, auch Forschung und Industrie arbeiten an neuen Lösungen. Eine immer größere Rolle spielt dabei die Sektorenkopplung, die Erzeugung und Verbrauch stärker aufeinander abstimmen soll als bisher. Denn zurzeit liegt die Schwierigkeit bei Sonnen- oder Windenergie darin, dass sie nicht kontinuierlich zur Verfügung steht. Auch die sogenannte Dunkelflaute in den Monaten im Jahr, in denen die Sonneneinstrahlung niedrig ist, muss mit neuen Lösungen aufgefangen werden.

Ehrgeizige Klimaziele

Die Bayerische Staatsregierung hat im Sommer 2019 die Weichen für wichtige Veränderungen in der Energiepolitik gestellt. Nachdem es in der Vergangenheit Kontroversen um neue Stromtrassen gegeben hatten, sollen nun die neuen Trassen bürgernäher als bisher umgesetzt werden. Ministerpräsident Markus Söder sagte, dort wo Leitungen unabänderlich seien, würden sie erdverkabelt, wo sie nicht zwingend seien, werde auf sie verzichtet. Das betrifft im Netzentwicklungsplan die umstrittenen Trassen P44 von Thüringen durch Oberfranken nach Grafenrheinfeld und die P43, die ebenfalls dorthin führt. Die P43 wird nun erdverkabelt, die P44 gar nicht gebaut. Der Südostlink nach Landshut und der Südlink werden gebaut, aber nur, weil das Land Bayern damit Vorgaben des Bundes nachkommt. Allerdings ist der Bau neuer Stromtrassen für Energiewende wichtig, weil gegenwärtig im Norden der meiste Strom produziert wird, während viele große Verbraucher eher im Süden angesiedelt sind.

ITK-Regional 2019-03.jpg

Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“ erschienen. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen bereits verfügbaren Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Beim Ausbau aufseiten der Energiegewinnung setzt die bayerische Regierung auf Sonne und Gas, nicht so sehr auf Windkraft. Künftig sollen jedes Jahr bis zu 70 neue Fotovoltaikanlagen genehmigt werden; zurzeit sind es um die 30 im Jahr. Das Klimaschutzpaket wird zudem die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung bis 2030 verlängern. Außerdem will das Land neue Gaskraftwerke für die Produktion von Reservestrom errichten.

Langfristig, nämlich bis 2050, soll Bayern seine Energie CO₂-neutral erzeugen. Allerdings kritisierte die Grünen-Fraktion im Landtag, dass die Pläne der Landesregierung die Windkraft nicht ausreichend berücksichtigen. Grüne und SPD fordern zudem, die 10H-Regel in der Bayerischen Landesbauordnung abzuschaffen. Diese Regel schreibt beim Bau von Windkraftanlagen einen Mindestabstand vom Zehnfachen ihrer Höhe zu Wohngebäuden in bebauten Gebieten vor. Die Staatsregierung will jedoch an dieser Regel festhalten, zumal sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist.

Im Energiemix deckt die Fotovoltaik laut Verband der Bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft zur Zeit etwa 14 % des bayerischen Bedarfs ab. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist hoch, denn die Anlagen sind modular und in der Größe variabel. Das Spektrum reicht von kleinen Anlagen auf Gebäudedächern bis hin zu großen Anlagen im Megawattbereich. Diese Anlagen liefern relativ viel Strom pro Flächeneinheit bei Sonnenschein über die Mittagszeit, also dann, wenn im Netz auch eine Lastspitze aufritt. Fotovoltaik eignet sich gut für die Sektorenkopplung von Strom mit Mobilität, mit Wärmepumpen oder auch für direkte Wärmeerzeugung.

Serie: Smart Grids

MW-PLZ0123-01-EMH-Metering-Produktion-in-Gallin-3.jpg

Teil 1 fängt dort an, wo derzeit der Schuh drückt: Der Umstieg auf erneuerbare Energien macht bei vielen dezentralen Erzeugern die Netzstabilität zu einem schwierigen Balanceakt. Die erste Aufmerksamkeit gilt darum (Puffer-)Speichern, Smart Metern – und eben flexiblen Netzen. Das Schüsselstichwort hierzu lautet „Sektorenkopplung“. Teil 2 berichtet aus Nordrhein-Westfalen, welche konkreten Lösungen für Smart Grids dort bereits im Einsatz sind. Teil 3 geht in den Süden und berichtet, wie Bayern bis 2050 seine Energie CO₂-neutral erzeugen will. Ein Extrabeitrag berichtet vom Neubau des 50Hertz-Rechenzentrums, außerdem gibt es einen Smart-Grid-Report aus Österreich. Weitere Regionalreports sind in Vorbereitung. (Bild: EMH metering)

Sektoren kopplung: Gas aus Wind energie

Dieses Ziel lässt sich mit der sogenannten Sektorenkopplung erreichen. Sie betrachtet alle energieerzeugenden und verbrauchenden Systeme ganzheitlich. Unter diesem Aspekt werden Strom, Fernwärme, Wasser- und Abwasserinfrastrukturen, aber auch Verkehrssysteme wie Straßenbeleuchtung und Ampeln zum Teil des Energiesystems der Zukunft. Abnehmer wie Lieferanten von Energie werden nicht isoliert betrachten, sondern als Teil des Systems.

Das könnte etwa so funktionieren: Strom entsteht nicht nur in Kraftwerken, sondern auch in dezentralen Windkraft-, Biogas- oder Fotovoltaikanlagen. Überschüssige Energie wird in Wasserstoff umgewandelt und gespeichert, um bei Bedarf über eine Brennstoffzelle wieder in Strom und in Wärme verwandelt zu werden. Gleichermaßen könnten Talsperren oder Druckluftspeicher als Energiereservoirs genutzt werden. Auch wenn das E-Auto nicht nur Verbraucher ist, sondern nachts als Pufferspeicher dient, ist das ein plakatives Beispiel von Sektorenkopplung. Ebenso sind sämtliche Szenarien, die unter dem Label „Power to X“ laufen, praktizierte Sektorenkopplung. Power to Heat ist als Kraft-Wärme-Kopplung bekannt und recht weit verbreitet, Power to Gas (P2G) ist vielversprechend, steht aber noch am Anfang.

Wie P2G funktionieren kann, zeigt die Anlage in Haßfurt, die im November 2018 den Bayerischen Energiepreis bekam. Sie wird gemeinsam von den Stadtwerken Haßfurt und Greenpeace Energy betrieben. Die Anlage wandelt überschüssigen Strom aus dem Bürgerwindpark Sailershäuser Wald und aus weiteren PV- und Windenergieanlagen in Wasserstoff um. Dieses sogenannte „Windgas“ wird dann ins Gasnetz eingespeist, es kann aber auch über längere Zeit gespeichert werden und stünde zur Verfügung, wenn andere Energieträger witterungsbedingt zu wenig Elektrizität liefern. Die Anlage liefert pro Jahr rund 1000 MWh.

MW-19PLZ89-03-Sie 180227 Hassfurth PEM5584.jpg
Die Haßfurter Power-to-Gas-Anlage bekam 2018 den Bayerischen Energiepreis in der Kategorie „Energieverteilung und -speicherung“. (Bild: Siemens AG – Stadtwerke Haßfurt)

Stromüberschüsse können mit derartigen Anlagen ins Gasnetz geleitet werden und außerdem die Stabilität des Stromnetzes gewährleisten. Die Einrichtung im unterfränkischen Haßfurt ist die erste P2G-Anlage im virtuellen Kraftwerk der Next Kraftwerke GmbH, die bundesweit rund 3000 dezentrale Kraftwerke betreibt.

Wichtig werden also der Energiemix und das intelligente Management der Lasten im Netz. Ebenso braucht man Speicherkapazitäten, damit etwa überschüssige Sonnen- oder Windenergie nicht wie heute einfach abgeregelt wird.

Smart Grids: schwankende Netze regeln

Die Antwort auf diese Problematik sind die sogenannten Smart Grids. Gemeint sind damit intelligente Stromnetze und Stromspeicher sowie Technologien zum Lastmanagement. Ein Smart Grid sorgt dafür, dass zwischen den verschiedenen Erzeugern keine Konflikte entstehen und das Zusammenwirken von Erzeugung, Netzmanagement, Speicherung und Verbrauch reibungslos läuft.

Ein wichtiger Baustein von Smart Grids sind intelligente Stromzähler oder Smart Meter. Diese Technologie ist nicht neu. Bereits seit den 1990er Jahren nutzen sie viele Großanwender. Im Prinzip handelt es sich dabei um einen Zähler, der Teil eines Kommunikationsnetzes ist und digitale Daten sendet und empfängt. Der intelligente Stromzähler übermittelt Daten über den Stromverbrauch und empfängt beispielsweise Tarifänderungen.

Um den Einfluss von Fotovoltaikanlagen auf das Mittel- und Niederspannungsnetz zu testen, errichtete der Energieversorger Bayernwerk ab 2011 in Niederbayern ein Solar Smart Grid rund um das Umspannwerk Seebach. Das Projektgebiet umfasste eine Fläche von 11 × 15 km zwischen den Städten Deggendorf und Osterhofen. Hier befanden sich 932 PV-Anlagen im Niederspannungsbereich und fünf PV-Anlagen mit Mittelspannung. Zeitweise wurden 15 MW ins 110-kV-Netz zurückgespeist. 324 Kunden beteiligten sich am Solar Smart Grid. Sie erhielten intelligente Zähler zum Messen von Verbrauch und Einspeisung; außerdem baute Bayernwerk in Transformatorstationen und Schalthäuschen entsprechende Sensoren ein. Bei einem verwandten Projekt entstand weiter nördlich in Arzberg 2014 eine Freiluft-PV-Versuchsanlage, hinzu kam ein Ortsnetzspeicher in Epplas.

Im Zentrum des Interesses stand die Frage, wie ein Stromnetz mithilfe von zentralen und dezentralen Speichereinheiten sowie durch die Beteiligung von intelligenten gesteuerten Verbrauchern und Erzeugern kontrolliert werden könne. Das Smart Grid Solar endete im August 2017, brachte aber Hochfranken eine Infrastruktur für die weitere Entwicklung eines intelligenten Stromnetzes. In den Projekten neos und C/sells wird die Forschungsarbeit fortgesetzt.

Neos stellt ein Feldlabor für neue Smart-Grid-Technologien dar. Dazu gehört nicht nur die bestehende Netzstruktur aus realen Erzeugern und Verbrauchern. Hinzu kommen zwei Testanlagen, darunter ein Reallabor mit Transformatoren, Redox-Flow-Speichern und eigenen Fotovoltaikanlagen. C/sells wiederum besteht aus rund 50 Partnern aus Forschung und Industrie in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Das Projekt soll zeigen, wie dezentrale und intelligente Stromnetze großflächig funktionieren können, speziell dann, wenn sie auf erneuerbaren Energien basieren. Die Projektpartner sind miteinander vernetzt und können witterungsbedingte Schwankungen wie schlechtes Wetter oder die sogenannte Dunkelflaute ausgleichen. So soll die Vorlage für eine künftige Energieversorgung entstehen.

Smart City: EU-Projekte in München und Passau

Smarter Together ist ein EU-Projekt, an dem sich neben München auch Wien und Lyon beteiligen. Ziel ist die Erprobung von Smart-City-Technologien in der Energieversorgung. Der Münchener Stadtteil Neuaubing-Westkreuz/Freiham soll damit bis 2050 komplett C0₂-neutral werden. Die Stadt will dafür bis 2021 um die 20 Millionen Euro ausgeben. Im Stadtteil werden E-Mobilitätsstationen und intelligente Lichtmasten errichtet, hinzu kommt eine Smart-City-App, die den Bewohnern einen Überblick über die digitalen Dienstleistungsangebote gibt. Die Lichtmasten sollen über Sensoren Umweltdaten und Verkehrsinformationen sammeln und ihre Beleuchtungsstärke der Tageszeit anpassen, indem sie in der Nacht heller strahlen als bei Beginn der Dämmerung. Außerdem sollen die Daten der Entwicklung neuer Anwendungen und mobiler Dienste dienen.

Serie: Smart City

MW-Fotolia 187249690.jpg

Teil 1 gibt eine erste Einführung und stellt als Beispiele die Konzepte in Hamburg, Berlin und Göttingen vor. Teil 2 geht nach Bayern und berichtet, was sich in den Münchner Modellvierteln tut. Teil 3 wechselt über die Grenze nach Österreich – dort hat man nämlich bereits eine nationale Smart-City-Strategie und ist führend im Passivhausbau. Teil 4 stürzt sich dann mitten in die Metropolregion Ruhrgebiet und berichtet unter anderem von der digitalsten Stadt Deutschlands. Den deutschen Südwesten nimmt sich zuletzt Teil 5 dieser Serie vor. Ein Extrabeitrag hat außerdem Beispiele dafür zusammengetragen, was Green IT zur Smart City beitragen kann. (Bild: zapp2photo – Fotolia)

In einer ersten Phase sollen zunächst 20 % C0₂ eingespart werden. Außerdem will der Stadtteil mehr als 20 % erneuerbare Energien nutzen und die Energieeffizienz um 20 % steigern. Einen Großteil der benötigten Energie sollen dezentrale Fotovoltaikmodule auf den Wohngebäuden sowie das Geothermie-Heizwerk Freiham liefern. Die Überproduktion fließt in einen Batteriespeicher, der zum sogenannten virtuellen Kraftwerk gehört. Damit will die Stadt München künftig ihr Versorgungsnetz stabil halten. Zudem sollen 42.000 m² Wohnfläche auf Smart-Home-Standard gebracht werden, sodass die Bewohner besser Energie einsparen können.

MW-19PLZ89-03-EASY-RES.jpg
Das EU-Projekt EASY-RES untersucht, wie sich eine Überlastung der Netze durch verteilte erneuerbare Energiequellen (Distributed Renewable Energy Sources = DRES) in den Griff bekommen ließe. Weitere relevante Kürzel in der Abbildung: AS = Ancillary Services, FSS = Fast Storage System, BESS = Battery Energy Storage System, ICA = Individual Control Area. (Bild: EASY-RES project)

Charakteristisch für das Flächenland ist, dass viele Privathaushalte Energie aus ihren Fotovoltaikanlagen ins Netz einspeisen. Aber auch Biogasanlagen, vor allem in der Landwirtschaft, spielen in Bayern eine große Rolle. Durch sie steigt der Anteil von erneuerbaren Energien am gesamten Energiemix; aber die Fülle schafft auch eigene Probleme: Wenn zu viel Energie ins Netz gespeist wird, steigt die Spannung so massiv an, dass Überlastung droht. Das Problem tritt meist dann auf, wenn die Gewerbe ruhen oder das Wetter besonders schön ist. Bislang gleichen Stadtwerke und Verteilnetzbetreiber das durch massiven Netzausbau aus. Aber es könnte auch einen anderen Weg geben. Das vom Lehrstuhl für Informatik der Universität Passau mitbetriebene EU-Projekt EASY-RES setzt hier an. EASY-RES steht für „Enable Ancillary Services by Renewable Energy Sources“, zu deutsch etwa „Netzdienstleistungen für erneuerbare Energiequellen ermöglichen“. Es will gerade den kleineren Produzenten die Möglichkeit geben, den Strom aus ihren Fotovoltaikanlagen zu überprüfen, bevor sie ihn ins Netz speisen.

Netzdienstleistungen könnten also in Zukunft dezentral erbracht werden, nämlich bei den Erzeugern. Sie würden Frequenzhaltung, Fehlertoleranz und Spannungshaltung umfassen, ihre Basis wären Speicher- und Invertertechnologien. Auf diese Weise ließe sich der umstrittene Ausbau neuer Hochspannungsleitungen reduzieren. Außerdem müssten keine synchron laufenden Generatoren mehr in Bereitschaft gehalten werden.

Friedrich-List-square.jpg

Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

Nützliche Links