Das Excel für die virtuelle Realität
Von Roland Freist
Die Spieleindustrie ist nach wie vor auf Wachstumskurs und der boomende Markt steigert die Nachfrage nach kompetenten Fachkräften. Das Statistik-Portal Statista schätzt, dass der Umsatz mit Videospielen im Jahr 2021 weltweit auf rund 137 Milliarden Euro steigt, bis 2025 soll sogar ein Wert von rund 195 Milliarden Euro erreicht werden. Das entspricht einem jährlichen Umsatzwachstum von 9,28 % (CAGR). Deutschland ist darunter mit einem erwarteten Umsatz von 2,368 Milliarden Euro für 2021 zwar ein eher kleinerer Markt, auf dem sich jedoch immerhin laut dem Branchenverband Game über 500 inländische Unternehmen behaupten können.
Ein vielversprechendes Spielfeld also für alle IT-Aficionados, die ihr Lieblingshobby zum Beruf machen wollen. Jobs in der Gaming-Branche sind vor allem unter jungen Erwachsenen begehrter denn je. Da viele Software- und andere Lösungsanbieter unter akutem Fachkräftemangel leiden, scheint das Potenzial insgesamt auch noch lange nicht ausgeschöpft. Denn die Einsatzmöglichkeiten der Technologie gehen immer weiter über den Gaming-Bereich hinaus.
Digitale Welten breiten sich aus
Mittlerweile haben auch zahlreiche andere Branchen die Möglichkeiten von Virtual Reality (VR) für sich entdeckt und damit begonnen, die Technologie für ihre Zwecke einzusetzen. Eine der bekanntesten Anwendungsumgebungen: Bereits seit vielen Jahren werden Piloten während ihrer Ausbildung mit computergestützten Flugsimulatoren trainiert. Viele Industriebetriebe nutzen virtuelle Umgebungen aber auch, um ihre Mitarbeiter für das Einlagern, Verpacken und Zuweisen von Bauteilen auszubilden und zu schulen. Die Automobilkonzerne setzen virtuelle Realität ein, um ihren Händlern Rundgänge durch neue und bestehende Modellreihen zu ermöglichen, bei denen sie Lage und Funktion jedes einzelnen Bauteils kennenlernen, ohne dass dazu ein reales Fahrzeug auseinandergenommen oder auf eine Hebebühne gestellt werden müsste.
Seit etlichen Jahren sind zudem virtuelle Führungen durch urbane Räume äußerst populär. Architekten und Baufirmen verwenden die Technik, um ihren Kunden einen 360-Grad-Überblick der geplanten Wohnungen und Gebäude zu geben, Verkehrsplaner nutzen 3D-Simulationen, um die Auswirkungen städtebaulicher Maßnahmen darzustellen. Last, but not least werden virtuelle Modelle zu Werbezwecken eingesetzt, etwa um dem Besucher einer Website einen Rundgang durch die Räumlichkeiten eines Unternehmens zu ermöglichen oder einem Kunstliebhaber einen Eindruck von den Ausstellungsstücken eines Museums zu vermitteln.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazinreihe „IT & Karriere“ erschienen. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
In einem ähnlichen Umfeld wie die virtuelle bewegt sich die Augmented Reality (AR), ein Begriff, der sich etwa mit „erweiterter Realität“ übersetzen lässt. Dabei geht es in den meisten Fällen um die Erweiterung von Bildern oder Videos mit computergenerierten Zusatzinformationen. Beispiel: Ein Tourist richtet die Kamera seines Smartphones auf ein historisches Gebäude, und eine Software blendet die Bezeichnung und Informationen zur Geschichte ein. Das Gleiche funktioniert bei Kunstwerken in Museen.
In der Industrie wird Augmented Reality beispielsweise genutzt, um für einen Mechaniker die einzelnen Teile etwa eines Getriebes zu beschriften und ihm Hilfestellungen für die Wartung zu geben. Architekten verwenden die Technik, um zu zeigen, wie sich ein geplantes Gebäude in die bestehende Landschaft einfügen wird. Darüber hinaus existieren Dutzende von Anwendungen etwa bei Sportübertragungen (man denke etwa an die eingeblendeten Linien beim Fußball und beim Skispringen), in zunehmendem Maße auch in der Medizin oder auch bei Digitalkameras mit Live-View-Suchern.
Unity: Standard bei 3D-/2D-Entwicklung
Je mehr Ideen für den Einsatz von Virtual und Augmented Reality in der Industrie entstehen, desto stärker wächst die Nachfrage nach Software-Plattformen, mit denen sich diese Ideen umsetzen lassen. Damit verbunden intensiviert sich auch die Suche nach Entwicklern, die sich auf VR und AR spezialisiert haben. Sieht man sich entsprechende Stellenangebote an, so stammen zwar die meisten nach wie vor aus der Gaming-Industrie. Dazwischen stehen jedoch zunehmend Anzeigen von Firmen, die ganz allgemein Aufträge im Bereich VR und AR für die Industrie übernehmen.
Als Entwicklungsplattform hat sich in den vergangenen Jahren Unity zu einer Art Quasistandard etabliert. Der Hersteller Unity Technologies wurde 2004 unter dem Namen Over the Edge Entertainment in Dänemark gegründet und hat seinen Sitz heute in San Francisco. Im Jahr 2020 wurde Unity jeden Monat weltweit von rund 1,5 Millionen Entwicklern eingesetzt. Man schätzt, dass jeden Monat etwa 2 Milliarden Menschen Applikationen nutzen, die mit Unity entwickelt wurden, Spiele eingeschlossen. Zu den bekanntesten Games mit Unity-Engine gehören die NASCAR-Reihe, Angry Birds Epic und Angry Birds 2, in der Entwicklung sind derzeit unter anderem Pillars of Eternity, Torment: Tides of Numenera und Wasteland 2.
Bei den Automobilfirmen baut unter anderem Volkswagen auf die Unity-Plattform, um virtuelle Modelle ihrer Fertigungsstraßen zu gestalten und Mitarbeiter daran zu schulen. DeepMind wiederum, die KI-Tochter der Google-Muttergesellschaft Alphabet, setzt Unity ein, um mit virtuellen Modellen ihre künstliche Intelligenz zu trainieren. Im September 2020 ging Unity Technologies schließlich an die Börse und konnte dabei 1,3 Milliarden US-Dollar herausschlagen.
Geringe Kosten, hohe Flexibilität
Unity war ursprünglich ein reines 3D-Werkzeug, weshalb die Software zu Beginn als „Unity 3D“ vermarktet wurde. Mit der Version 5 wurde das Programm um spezielle 2D-Tools erweitert, seither läuft es unter der Bezeichnung Unity. Der Erfolg der Software ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Da ist zum einen das Lizenzmodell: In der Basisversion Personal ist das Programm kostenlos nutzbar. Voraussetzung ist lediglich, dass die Umsätze der Firma oder des Entwicklers in den letzten zwölf Monaten die Summe von 100.000 US-Dollar nicht überstiegen haben. Auch die umfangreicheren Versionen Plus, Pro und Enterprise orientieren sich bei den Lizenzkosten allein am Umsatz der Entwicklerfirma und sind selbst für kleinere Teams erschwinglich.
Hinzu kommt die Flexibilität der Software: Unity läuft auf Windows, Mac OS und, derzeit noch als Beta-Version, auch auf Linux. In allen Varianten lassen sich Anwendungen für Windows, Windows Store Apps, Mac OS, Linux, die Spielkonsolen Nintendo Switch, Wii U, New 3DS, Sony Playstation 3, Playstation 4, Playstation Vita, Playstation Mobile, Microsoft Xbox 360, Xbox One, die Mobil-Betriebssysteme Apple iOS, Android, Blackberry 10, Windows Phone 8, die Browser Firefox, Safari, Chrome, Internet Explorer und Opera sowie für WebGL erzeugen. Über Erweiterungen und zusätzliche Anbindungen unterstützt Unity unter anderem Anwendungen für Oculus Rift und Go, HTC Vive, Microsoft Hololens und die Arduino-Plattform.
Die Oberfläche von Unity orientiert sich an der von 3D-Animationsprogrammen. Das Hauptfenster zeigt die aktuelle 3D-Szene, die umgebenden Menüs ermöglichen die Bearbeitung unter anderem von Kamera und Lichtquellen. Komponenten wie 3D-Objekte, Texturen oder Sounds lassen sich per Drag-and-drop importieren. Die Arbeit mit Unity erfordert zumindest grundlegende Kenntnisse in der Programmiersprache C#. Damit legt der Entwickler Skripte an, die den GameObjects sagen, wie sie sich verhalten sollen. Die Skripte werden als Komponenten an die GameObjects gebunden und lassen sich anschließend beispielsweise als Auslöser für Spielereignisse, für die Anwendung der Spielphysik oder auch für die Definition der Reaktion auf bestimmte Benutzereingaben einsetzen. Seit der Version 2018.1 kann der Benutzer Visual Studio for Unity Community als Editor verwenden.
Ausbildung in der Comm-Unity
Viele Unity-Entwickler besitzen einen Bachelor-Abschluss in Informatik. Die meisten von ihnen haben sich bereits während ihres Studiums mit Unity beschäftigt und teilweise auch schon für Unternehmen gearbeitet oder selbst kleinere Projekte umgesetzt. Eine weitere große Gruppe hat eine dreijährige Ausbildung zum Fachinformatiker im Bereich Anwendungsentwicklung absolviert. Eine entsprechende Ausbildung bieten auch viele Spielehersteller an. Darüber hinaus gibt es unter den Unity-Entwicklern aber auch viele Quereinsteiger, die sich die Arbeit mit der Software selbst beigebracht haben. Auf der Homepage von Unity, aber auch bei mehreren unabhängigen Sites, findet man Anleitungen für die ersten Schritte mit dem Programm, die auch für Anfänger einfach nachzuvollziehen sind. Teilweise umfassen sie sogar Erklärungen für den Umgang mit C#.
In Deutschland existieren mehrere Foren, etwa von Unity selbst, aber auch von unabhängigen Betreibern – zum Beispiel das Unity Insider Forum –, in denen sich Entwickler an die Community wenden können, wenn sie an einer Stelle nicht weiterkommen. Aber auch die englischsprachige Entwickler-Website Stack Overflow bietet einen großen Bereich für Fragen zu Unity an. Hinzu kommt allein in Deutschland rund ein Dutzend regionale Unity-Developer-Gruppen mit teilweise mehreren Hundert Mitgliedern.
Eignet man sich das benötigte Wissen selbst an, sollte man dennoch zumindest erste Erfahrungen im Bereich der Spieleentwicklung gesammelt haben, bevor man den Einstieg als professioneller Unity-Entwickler anstrebt. Gutes Geld kann die Leidenschaft für das Designen virtueller Welten dann auf jeden Fall eintragen. Nach den Angaben der Website gehalt.de liegt das Einstiegsgehalt für Unity-Entwickler im Schnitt bei rund 4400 Euro pro Monat und kann mit den Jahren auf mehr als 5600 Euro steigen. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um Durchschnittswerte für ganz Deutschland, in den Großstädten können die Beträge auch deutlich höher liegen.
Mein bevorzugtes Entwicklungsfeld
Für die Entwicklung von VR- und AR-Anwendungen hat Unity mittlerweile eine ähnliche Bedeutung wie Excel für die Arbeit im Büro. Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach Entwicklern, die sich auf die Plattform spezialisiert haben. Da Unity Technologies sein Produkt ständig weiterentwickelt und sich dabei eng an den Anforderungen und Entwicklungen in der Industrie orientiert, ist für die nächsten Jahre auch kein Konkurrenzprodukt in Sicht, das Unity den Rang ablaufen könnte. Die vergleichsweise niedrigen Lizenzgebühren und die umfassende Unterstützung für Einsteiger tun ein Übriges, um die Beliebtheit der Software in Zukunft eher noch zu steigern.
Wer sich also für die Möglichkeiten bei der Arbeit mit der Unity-Plattform begeistern kann und womöglich gerade einen entsprechenden Studiengang absolviert, daneben bereit ist, einige Zusatzqualifikationen zu erwerben, den erwarten erstklassige Berufsaussichten: Viele Unternehmen haben eben erst damit begonnen, dieses Feld für sich zu entdecken und suchen nun dringend nach qualifiziertem Personal. Auch Quereinsteiger und Autodidakten haben gute Aussichten, wenn sie potenzielle Arbeitgeber von der eigenen Qualität überzeugen können. Wer mit Unity eine Einheit bildet, spielt in der obersten Liga.
Roland Freist, Jahrgang 1962, begann nach einem Studium der Kommunikationswissenschaft ein Volontariat beim IWT Verlag in Vaterstetten bei München. Anschließend wechselte er zur Zeitschrift WIN aus dem Vogel Verlag, wo er zum stellvertretenden Chefredakteur aufstieg. Seit 1999 arbeitet er als freier Autor für Computerzeitschriften und PR-Agenturen. Seine Spezialgebiete sind Security, Mobile, Internet-Technologien und Netzwerke, mit Fokus auf Endanwender und KMU.
Redaktionsbüro Roland Freist, Fritz-Winter-Str. 3, 80807 München, Tel.: (089) 62 14 65 84, roland@freist.de