Update für IT-Experten
Von Mehmet Toprak
Sie zündeten abends die Laternen an, schmiedeten Nägel, stellten Seife her, bremsten Eisenbahnzüge oder spielten Klavier im Kino. All die Laternenanzünder, Nagelschmiede, Seifensieder, Bremser oder Kinopianisten gibt es heute nicht mehr, ihre Berufe sind ausgestorben. Jetzt sind es vielleicht die Automechaniker, Elektriker oder Antennentechniker, die demnächst nicht mehr gebraucht werden.
Das Verschwinden ganzer Berufszweige und das Auftauchen neuer Berufe ist eine vertraute Begleiterscheinung der Industrialisierung. Durch die Digitalisierung hat sich diese Entwicklung zwar deutlich beschleunigt, wirklich neu ist sie aber nicht. Allerdings: Von Bits und Bytes getriebene Megatrends wie Industrie 4.0, künstliche Intelligenz, Blockchain oder Quantencomputing beschleunigen den Wandel zusätzlich. Auch in den etablierten Themenfeldern Energieversorgung, Landwirtschaft, Biotechnologie oder Medizintechnik ist die Digitalisierung mit Macht eingezogen und lässt neue Aufgaben entstehen. Überall sind plötzlich Experten für Blockchain gefragt, Berufe wie Machine Learning Analyst, Voice UX Designer oder Data Artist finden sich auf den Wunschlisten innovativer Start-ups.
Wachsende Zukunftssorgen
Unternehmen, die mit neuen Produkten oder Dienstleistungen auf den Markt gehen wollen und dafür geeignete Freiberufler oder Mitarbeiter suchen, bekommen ein Problem. Wenn gefühlt im Monatsrhythmus neue Jobs und Berufe erscheinen, kann der Arbeitsmarkt nicht mehr mithalten, weil neue Kompetenzen sich viel langsamer entwickeln. Selbst wenn Unternehmen interne Fortbildungsmaßnahmen organisieren oder sich um Hochschulabsolventen bemühen, tun sie sich schwer, zukunftsweisende Kompetenzen ins Unternehmen zu holen. Doch nur damit lassen sich neue Märkte, Technologien und Aufgabenfelder besetzen.
„Im Zuge der digitalen Transformation ist Upskilling kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.“ – Simon Alborz, Direktor Hays. (Bild: Hays)
Experten von Beratungs- oder Recruiting-Unternehmen kennen die Situation nur zu genau. Simon Alborz, Hamburger Direktor beim Personaldienstleister Hays, sagt: „Je stärker das Aufgabenfeld von Fachkräften durch die Digitalisierung beeinflusst wird, desto schneller verändern sich die inhaltlichen Anforderungen an die Qualifikation der Fachkräfte.“ Zu einem ähnlichen Urteil kommt Marcus Opper, Head of Permanent Placement IT beim Recruiting-Dienstleister Gulp: „Der Bedarf für diese Skills wird künftig riesig und der Kandidatenmarkt, vor allem der inländische, ist in der Tat extrem klein.“
„Die große Challenge sind fehlende Schulungsoptionen für neue Mitarbeiter, um sie durch Upskilling auf die eigentliche Aufgabe vorzubereiten.“ – Marcus Opper, Head of Permanent Placement IT bei Gulp. (Bild: Gulp)
Iris Brückner, Director im Bereich People & Organization bei der Unternehmensberatung Capgemini, zitiert aus einer hauseigenen Studie: „54 % der Unternehmen bestätigen, dass fehlende Fähigkeiten in der Mitarbeiterschaft die digitalen Initiativen innerhalb der Organisation behindern und sie durch die Talentlücke langfristig Wettbewerbsvorteile im Markt verlieren.“ Doch nicht nur Firmen und Organisationen tun sich schwer, Mitarbeiter mit topaktuellen Skills zu finden. Auch die Angestellten selbst und ihre freiberuflichen Kollegen machen sich Sorgen. „Unsere Studie zeigt, dass 47 % der Mitarbeiter aus der Generation X und Y besorgt sind, dass ihre Fähigkeiten entweder bereits überflüssig sind oder es in den nächsten ein bis zwei Jahren sein werden“, betont Brückner.
„Mitarbeiter haben die berechtigte Erwartung, dass ihr Unternehmen sie bei der Entwicklung der zukünftig benötigten Kompetenzen unterstützt.“ – Iris Brückner, Director im Bereich People & Organization bei Capgemini Invent.(Bild: Capgemini)
Mehr als klassische Weiterbildung
Das Problem ist europaweit zu spüren, denn nach Schätzungen der EU-Kommission werden bis 2025 etwa 50 % der Mitarbeiter ein Upskilling brauchen. Da ist es also, das Zauberwort für die Lösung des digitalen Fachkräftemangels: Upskilling. Der Begriff ist dabei mehr als nur ein modisches Buzzword für die gute alte Weiterbildung. Während die klassische Weiterbildung einen Lehrplan mit klar umrissenen Inhalten für ein definiertes Aufgabenfeld bietet, versteht man unter Upskilling einen strategischen Ansatz, die Kompetenzen der Mitarbeiter im Hinblick auf den digitalen Wandel fortlaufend und langfristig zu entwickeln.
Klassische Weiterbildung war gestern
Upskilling wird zumeist als Oberbegriff für alle Formen der Weiterbildung genutzt. Manche Recruiting– oder Arbeitsmarkt-Experten allerdings fassen die Bedeutung des Begriffs enger und ergänzen dafür weitere Skilling-Varianten.
- Upskilling: Der Mitarbeitende entwickelt seine Kompetenzen weiter und ist so in der Lage, neue Technologien und Arbeitsweisen innerhalb seines Aufgabengebiets einzusetzen oder auch den Tätigkeitsschwerpunkt zu ändern.
- Reskilling: Der Mitarbeitende wechselt in ein neues Aufgabenfeld und absolviert dafür eine Ausbildung, in der er neue Fähigkeiten und Kenntnisse erwirbt. Wird auch als Sideskilling bezeichnet.
- Multiskilling: Mitarbeitende erwerben Kompetenzen für unterschiedliche Aufgaben und können so flexibel oder in anderen Abteilungen eingesetzt werden.
- Preskilling: Ein Mitarbeitender bereitet sich auf ein neues Aufgabenfeld vor, das vielleicht auf seinem eigenen Job aufbaut oder für das er sich persönlich interessiert. Danach könnte er probeweise oder als Vertretung für Kollegen neue Aufgaben übernehmen und so langsam in die andere Tätigkeit hineinwachsen.
Für Mitarbeiter bedeutet Upskilling ganz konkret, dass sie ihre Kompetenzen immer wieder überprüfen und ausbauen und so in der Lage sind, neue Technologien und Arbeitsweisen einzusetzen und bei Bedarf auch den Tätigkeitsschwerpunkt zu verändern. Insgesamt bewegt sich der Trend weg vom fest definierten Beruf und hin zu variabel einsetzbaren Kenntnissen und Fähigkeiten. Das bedeutet auch einen Perspektivenwechsel der Personalabteilungen. Ging es früher darum, die richtigen Mitarbeiter für den richtigen Job einzustellen und deren Fähigkeiten von Zeit zu Zeit mit einer Fortbildung nachzubessern, betrachten die HR-Spezialisten von heute, welche Kompetenzen die Firma in Zukunft benötigt. Dementsprechend werden die Mitarbeiter laufend mit den entsprechenden Skills und Kenntnissen ausgestattet.
Um welche zukunftsweisenden Kompetenzen geht es aber eigentlich? Dafür gibt es von Organisationen wie dem World Economic Forum oder der EU-Kommission lange Listen. So listet die EU-Kommission in ihrem e-Competence Framework 41 zukunftsträchtige Kompetenzen im Bereich der IT-Berufe auf. Im Zentrum der aktuell besonders gesuchten Fähigkeiten stehen wenig überraschend die sogenannten STEM-Kompetenzen (Science, Technology, Engineering, Maths), im Deutschen auch als MINT-Fächer bekannt. Aber nicht nur: Auch crossmediale Talente, also die Fähigkeit, in der digitalen Welt ganz unterschiedliche Medien und Formate zu bedienen, stehen hoch im Kurs. Hinzu kommen soziale und kreative Kompetenzen – idealerweise alle in einer Person vereint.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazinreihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“ erschienen. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen bereits verfügbaren Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Innovative Upskilling-Strategien
Längst haben große Unternehmen die Aufgaben ihrer HR-Abteilungen neu strukturiert, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. Bei Siemens beispielsweise arbeitet ein Global Learning Campus daran, alle Mitarbeitenden mit virtuellen Trainingskursen passgenau für ihre jeweiligen Aufgaben mit den jeweils topaktuellen Kompetenzen auszustatten.
Die Bereitschaft, sich auf das Thema Upskilling einzulassen, ist nach Einschätzung der Recruiting-Experten bei den meisten Mitarbeitern ohnehin sehr hoch. Hays-Experte Simon Alborz meint: „Gerade im IT-Bereich ist oft ein sehr hohes, thematisches Interesse vorhanden, sodass Fachkräfte vielfach aus eigener Initiative Upskilling-Maßnahmen durchführen.“ Die Zeiten, in denen die Personalabteilung Mitarbeitende für zwei Wochen auf eine Weiterbildung schicken, dürften also bald der Vergangenheit angehören.
Auch die Art und Weise, wie gelernt wird, verändert sich deutlich. Nicht nur Präsenzkurse sind im Rückgang begriffen, auch E-Learning ist nicht mehr unbedingt die einzige Option. Fachleute wie Capgemini-Managerin Brückner sprechen von der „70:20:10 Methodik“. 70 % des Lernens erfolgen direkt am Arbeitsplatz durch Learning by Doing. Weitere 20 % entstehen durch soziales Lernen, also durch Kommunikation mit Kollegen und Experten. „Nur die verbleibenden 10 % basieren auf traditionellen Schulungen“, erklärt Brückner.
Hays-Manager Simon Alborz verweist auf die gemeinsame Verantwortung aller Beteiligten: „Es hilft wenig, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenseitig die Verantwortung für die Weiterbildung zuschieben. Es bedarf der gebündelten Kräfte beider, um die Voraussetzungen – Finanzierung, Zeiteinsatz, persönliches Interesse, Praxistransfer – für eine effektive Weiterbildungsstrategie zu schaffen.“ Marcus Opper von Gulp erinnert daran, dass Kompetenzen nicht nur mit Technologie zu tun haben. „In Berlin betreiben mittelständische IT-Unternehmen ein erfolgreiches Hiring aus Osteuropa und Südamerika. Unternehmen sollten bewusst auch in Sprachschulungen investieren und keine Scheu vor internationalem Recruiting haben.“
Einig sind sich alle Recruiting-Fachleute darin, dass es ohne eine durchdachte Upskilling-Strategie nicht geht. Diese besteht im Wesentlichen aus vier Schritten: Im ersten Schritt werden die benötigten Kompetenzen definiert und eine Art Curriculum erstellt. Danach wird die nötige Infrastruktur, darunter etwa geeignete Schulungsmaßnahmen, bestimmt. Nach der Evaluierung in Pilotprojekten wird die Upskilling-Strategie skaliert und auf das ganze Unternehmen übertragen. Kleinere Betriebe oder Start-ups werden das Thema weniger generalstabsmäßig angehen. Aber auch sie müssen darauf achten, dass sie schnell und flexibel auf neue Job-Rollen oder Aufgabenfelder reagieren können.
Gefragte Skills im Blick behalten
Ein konsequentes Upskilling hat nicht nur den Vorteil, dass Festangestellte ihren Job behalten, Freiberufler lohnende Aufträge bekommen und Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Upskilling könnte in Zukunft auch neue Arbeitsplätze schaffen, wenn Unternehmen dank topaktueller Kompetenzen innovative Produkte oder Dienstleistungen anbieten und neue Märke erobern können.
Die Arbeitsplätze der Zukunft stehen vielleicht schon vor der Tür. Da gibt es Data Detectives, AI Business Development Manager, AI-Assisted Healthcare Technicians, Cyber City Analysts oder Data Trash Engineers. Das sind nur einige von 42 Zukunftsberufen, die das Portal Perfectly Plain zumindest als Spekulation aufzählt. Für die Mitarbeitenden und die Freiberufler ist der aufmerksame Blick auf zukünftige Skills sicherlich im Eigeninteresse. Dann stehen die Chancen gut, dass es dem Mechatroniker, IT-Administrator oder Datenbankprogrammierer eines Tages nicht so geht wie dem Laternenanzünder, Seifensieder oder Kinopianisten von einst.
Tipps fürs DIY-Upskilling
Wer als Angestellter, als Berufsanfänger oder auch als Selbstständiger auf lange Sicht erfolgreich sein will, muss das eigene Upskilling im Auge behalten. Dazu ein paar Tipps:
- Entwickeln Sie, abhängig von persönlichen Interessen ihre digitalen Fähigkeiten auch in der Freizeit weiter, zum Beispiel als Endanwender digitaler Technologien.
- Bringen Sie im Unternehmen auch Kenntnisse und Fähigkeiten ein, die nicht direkt mit der eigenen Rolle und dem Aufgabenbereich verknüpft sind.
- Nutzen Sie soziale Netzwerke, um ihre Kenntnisse und Kompetenzen bekannt zu machen.
- Nutzen Sie die Möglichkeiten für den abteilungsübergreifenden Austausch mit anderen Kollegen, beispielsweise mit Arbeitsgruppen und Communities of Practice. Engagieren Sie sich in Digitalisierungsprojekten oder Expertenforen.
(Quelle: Capgemini, Iris Brückner)