Hochfliegende Wasserstoffpläne
Von Friedrich List
Hamburg hat sich einiges vorgenommen: Laut Klimaplan sollen die CO₂-Emissionen, von 1990 aus gerechnet, bis 2030 um 55 %, bis 2050 sogar um 95 % sinken. Zwei Drittel dieses Sparvolumens entfällt auf die Wirtschaft. In der Hansestadt ging jüngst das vierjährige Forschungsvorhaben NEW 4.0 zu Ende. Unter Federführung der Hochschule für Angewandte Wissenschaften untersuchten rund 60 Projektpartner verschiedene Aspekte der Energiewende. In rund 100 einzelnen Projekten entstanden 25 Demonstrationsanlagen, die erprobten, ob die Energiewende machbar ist und welche Lösungen sie erfordert. NEW 4.0 hat gezeigt, wie Hamburg und Schleswig-Holstein bis 2035 eine sichere, auf erneuerbaren Energiequellen beruhende Stromversorgung aufbauen könnten. Zu den Ergebnissen gehören Lösungen zur intelligenten Steuerung von Erzeugung und Verbrauch für industrielle, gewerbliche und private Abnehmer.
Hamburg: 60 km Hafennetz
Zudem weitet die Stadt ihr Wasserstoffnetz aus: Im Hamburger Hafen entsteht HH-WIN, ein Zuliefernetz für Wasserstoff. Im Moment ist das Netz 45 km lang, bis 2030 soll es auf 60 km Länge anwachsen. HH-WIN soll industrielle Abnehmer mit grünem Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen versorgen. Zu den Interessenten gehören das Metallwerk Aurubis, aber auch Produzenten von grünem Wasserstoff aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Der Anbieter von HH-WIN, Gasnetz Hamburg, hofft, bis zu einem Drittel der Erdgasnutzung in der Elbmetropole auf Wasserstoff umzustellen.
Das städtische Tochterunternehmen Gasnetz Hamburg arbeitet mit HH-WIN an einem Wasserstoffnetz im Hafen, das bis 2030 auf 60 km Länge ausgebaut werden soll. (Bild: Gasnetz Hamburg)
Hamburg plant außerdem die Errichtung eines Großelektrolyseurs als Einspeiser, Industrieanwendungen für Wasserstoff, sowie Tankstellen für Schiffe und Fahrzeuge mit Wasserstoffantrieb. Der Großelektrolyseur wird am Standort Moorburg entstehen, an dem bis vor kurzem ein Kohlekraftwerk arbeitete. Der Flughafen Hamburg ist gerade dabei, über 300 seiner 370 Fahrzeuge auf wasserstoffgespeiste Brennstoffzellen umzurüsten. Des Weiteren soll ein eigener Elektrolyseur für den Flughafen errichtet werden. Die Hamburger Hochbahn wird in Zukunft nur noch Wasserstoffbusse beschaffen.
Bremen: H aus der Kaverne
In Bremen und Bremerhaven sind eine ganze Reihe von Wasserstoffprojekten an den Start gegangen. An der Weser sollen mobile wasserstoffgespeiste Stromgeneratoren Binnenschiffe versorgen. Neue Schiffe von Wasserschutzpolizei und Hafenbehörden sowie Arbeitsfahrzeuge von Bremenports sollen Wasserstoffantriebe erhalten. In einem weiteren Projekt entwickeln Bremenports, die Hamburger Hafenbehörde, der Lokhersteller Alstom und der Antriebsspezialist Hy Solutions eine mit Wasserstoff betriebene Rangierlok, die dann in den Häfen beider Städte eingesetzt werden soll. Bremerhaven will außerdem eine multimodale Tankstelle errichten, die Wasserstoff an Schiffe, Schienen- und Straßenfahrzeuge abgeben kann.
Im Kraftwerk Mittelsbüren soll eine Elektrolyseanlage errichtet werden. Das zur Zeit noch mit Stein- und Braunkohle betriebene Kraftwerk liegt in der Nähe einer als Speicher nutzbaren Kaverne und bietet bereits den größeren Teil der für den Wasserstoff nötigen Infrastruktur. In den nächsten Jahren wird dann die Kohle nach und nach durch Wasserstoff ersetzt. Die Kaverne wird zudem das Stahlwerk ArcelorMittal Bremen versorgen, das schon jetzt einer der größten Wasserstoffnutzer der Wesermetropole ist. ArcelorMittal plant, das Bremer Werk weitgehend auf Wasserstoff umzustellen.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazinreihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“ erschienen. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen bereits verfügbaren Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Norddeutsche Wasserstoff-Strategie
Dabei handeln die beiden Stadtstaaten und die anderen Bundesländer im Norden nicht alleine. Bereits Ende 2019 einigten sie sich auf eine gemeinsame Wasserstoffstrategie. Neben Bremen und Hamburg beteiligen sich Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Mitte vergangenen Jahres schlossen sie sich zum Reallabor Norddeutschland zusammen, das die Nachfolge des jüngst abgeschlossenen NEW 4.0 antritt. Bis 2035 soll so eine auf grünem Wasserstoff basierende Energiewirtschaft entstehen.
Schleswig-Holstein schob Ende Oktober eine eigene Wasserstoffstrategie nach. Damit gibt es erstmals einen Rahmen für die Erzeugung, Nutzung, den Transport und die Weiterverwendung von grünem, also mit Strom aus regenerativen Energien produziertem Wasserstoff. Dafür stellt das Land bis 2023 Fördermittel von 30 Millionen Euro bereit. Ziel ist der Aufbau einer Produktions- und Verteilungsstruktur. Um den erwarteten Bedarf zu decken, braucht das Land Schleswig-Holstein bis 2025 rund 200 und bis 2030 etwa 1000 MW Elektrolyseleistung. Elektrolyseure werden in der Nähe von großen industriellen Verbrauchern errichtet. Über Pipelines sollen die Region erschlossen und dann an das europäische Wasserstoffnetz angeschlossen werden.
Auch das Land Niedersachsen treibt die Umstellung zum grünen Wasserstoff voran. So will sich die Stadt Hannover nach Möglichkeit mit selbst produziertem Wasserstoff versorgen. Daher gibt sie elf Millionen Euro dafür aus, Wasserstoff im Großklärwerk Herrenhausen zu produzieren. Dabei soll nicht nur der Wasserstoff, sondern auch alle anderen Nebenprodukte genutzt werden: Der Wasserstoff soll Busse und andere Fahrzeuge antreiben, der Sauerstoff soll im Klärwerk selbst verbraucht werden, während die Abwärme ins Fernwärmenetz eingespeist wird. Wenn auch Bund und Land das Projekt fördern, kann die Produktion bis 2025 beginnen.
H₂Mehrum heißt eine Initiative aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Sie untersucht, ob sich das Kohlekraftwerk Mehrum für eine Umrüstung auf das Verbrennen von Wasserstoff eignet. Bis zum Sommer 2020 soll geklärt sein, ob das Kraftwerk die Wirtschaftsregion Hannover-Braunschweig-Wolfsburg mit grünem Strom versorgen kann. Zudem soll ein Elektrolyseur auf dem Kraftwerksgelände grünen Wasserstoff produzieren.
In Mecklenburg-Vorpommern hat sich die Region Rügen-Stralsund am HyStarter-Förderprogramm des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) beteiligt und im Januar 2021 die Ergebnisse präsentiert. Danach soll die Produktion von grünem Wasserstoff in der Region gefördert werden. Der ÖPNV soll auf Wasserstoffbusse umstellen. Die Häfen Sassnitz und Stralsund könnten zu wichtigen Standorten in der Erzeugung von Wasserstoff werden sowie in Umschlag und Logistik eine wichtige Rolle spielen.
Der Einführungsbeitrag beginnt in Berlin – die Bundeshauptstadt ist experimentierfreudiger Vorreiter neuer Mobilitätskonzepte. Gute Beispiele meldet der Report auch aus Hamburg und Dresden. Teil 2 begibt sich dann in den Westen nach Nordrhein-Westfalen; dort hat das Zukunftsnetz Mobilität NRW viele Projektfäden in der Hand. Eine wichtige Rolle spielt hier der öffentliche Personennahverkehr, denn immer mehr Verkehrsbetriebe lassen ihre Busse mit Biogas fahren. Teil 3 geht zu den Ursprüngen der Automobilindustrie und sieht sich an, wie sich Baden-Württemberg und insbesondere Stuttgart die Zukunft der Mobilität vorstellen. Teil 4 berichtet aus dem benachbarten Flächenland Bayern, Teil 5 fährt über die Grenze nach Österreich. Außerdem gibt es bereits einen Report zu mobilen Stauwarnanlagen und intelligentem Verkehrsmanagement sowie zu autonomen Schiffen, Wasserstoffprojekten, Business-Bikes, Stadtseilbahnen sowie Lufttaxis und Urban Air Mobility.
NRW: Elektrolyse für die Hochöfen
Auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat 2020 eine eigene Wasserstoff-Roadmap präsentiert. Ziel ist, sich im Wettbewerb um den zeitnahen Ausbau der Wasserstoffversorgung an die Spitze zu setzen. Bis 2025 sollen die ersten, mit dem Zukunftsgas betriebenen Großanlagen in Betrieb gehen. Außerdem will das Land rund 100 km Wasserstoffpipeline gelegt haben, bis 2030 dann 240 km. Zudem sollen 400 Lastwagen und 500 Wasserstoffbusse auf den Straßen unterwegs sein. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, erwartet, dass so ein Viertel der heutigen CO₂-Emissionen eingespart werden könnte.
Weil aber der grüne Wasserstoff nicht in den benötigten Mengen hergestellt werden kann, hat das Land eine Vereinbarung mit den Niederlanden geschlossen. So kann mit Windstrom erzeugter Wasserstoff von dort über bestehende Erdgasleitungen zu industriellen Abnehmern in Nordrhein-Westfalen gelangen.
Einer dieser Abnehmer dürfte Thyssenkrupp sein. Das Unternehmen rüstet am Standort Duisburg einen seiner Hochöfen auf Wasserstoff um. Dadurch könnte der CO₂-Ausstoß der Anlage um bis zu 20 % sinken. Auch die Shell-Rheinland-Raffinerie orientiert sich neu. In Wesseling entsteht die nach Unternehmensangaben weltgrößte Elektrolyseanlage. Hinzu kommt eine Produktionsanlage für synthetische Kraftstoffe. Insgesamt laufen in NRW zurzeit 13 derartige Projekte mit einem Gesamtvolumen von 4 Milliarden Euro.
Berlin: Nachzügler mit Alternativen
In der Bundeshauptstadt laufen die Dinge auch in Sachen Wasserstoff langsamer an als im Rest der Republik. Zwar macht sich auch dort die Energiewende mit ihren Trends zu Dezentralisierung und Dekarbonisierung bemerkbar. Aber eine Wasserstoffstrategie des Landes Berlin gibt es bislang nicht. Stattdessen stellte die Initiative H2Berlin Anfang Oktober 2020 eine Studie zum Potenzial grünen Wasserstoffs in der Hauptstadt vor. Die besten Möglichkeiten liegen demnach vor allem im Verkehrssektor und in der Wärmeversorgung.
Als Nächstes soll eine Roadmap erarbeitet werden. Ziel ist, speziell die schlecht gedämmten Altbauten an ein Wasserstoffnetz anzuschließen. Wasserstofffahrzeuge sollen Batterievehikel dort ergänzen, wo besondere Leistungsfähigkeit gefordert ist. H2Berlin wird von Unternehmen wie den Berliner Stadtwerken, Toyota, der GASAG und Vattenfall getragen.
Auch Berlin verfolgt das Ziel, entsprechend der Nationalen Wasserstoffstrategie bis 2050 klimaneutral zu werden. So fördert die Stadt schon länger die Errichtung von Fotovoltaikanlagen auf Häusern. Im März 2021 verabschiedete der Senat den Masterplan Solarcity. Wenn es nach dem in Beratung befindlichen neuen Solargesetz geht, sollen ab 2023 alle Neubauten ab 50 m² Nutzungsfläche mit PV-Anlagen ausgestattet sein. Im Bezirk Neukölln soll zudem ab 2022 eine Solarpflicht für alle öffentlichen Gebäude greifen.
Brandenburg und die Lausitz: Power-to-X
Das Land Brandenburg kümmert sich schon länger um die Energiewende, zumal für die Zeit nach dem Kohleabbau in der Lausitz neue Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Dabei setzt man auf Power-to-X-Technologien, die aus erneuerbaren Energien den begehrten grünen Wasserstoff erzeugen können. So ging 2011 in Prenzlau das weltweit erste Hybridkraftwerk in Betrieb. Die Anlage in der Uckermark erzeugt sowohl Strom als auch Wärme. 2013 wurde eine Power-to-Gas-Pilotanlage in Falkenhagen errichtet, die 2018 eine Methanisierungsstufe erhielt und nun grünes Erdgas liefert. Zudem produziert Brandenburg seit 2011 grünen Wasserstoff aus Windenergie. Bis zum Sommer will das Bundesland nun eine eigene Wasserstoffstrategie vorlegen. Ziel ist außerdem, das Stromnetz so auszubauen, das der überschüssige Ökostrom aus Windrädern nicht mehr abgeregelt werden muss, sondern etwa zur Wasserstofferzeugung genutzt werden kann.
Teil 1 fängt dort an, wo derzeit der Schuh drückt: Der Umstieg auf erneuerbare Energien macht bei vielen dezentralen Erzeugern die Netzstabilität zu einem schwierigen Balanceakt. Die erste Aufmerksamkeit gilt darum (Puffer-)Speichern, Smart Metern – und eben flexiblen Netzen. Das Schüsselstichwort hierzu lautet „Sektorenkopplung“. Teil 2 berichtet aus Nordrhein-Westfalen, welche konkreten Lösungen für Smart Grids dort bereits im Einsatz sind. Teil 3 geht in den Süden und berichtet, wie Bayern bis 2050 seine Energie CO₂-neutral erzeugen will. Ein Extrabeitrag berichtet vom Neubau des 50Hertz-Rechenzentrums, außerdem gibt es einen Smart-Grid-Report aus Österreich. Weitere Regionalreports sind in Vorbereitung. (Bild: EMH metering)
Neue Regeln für den Wasserstoff
Inzwischen reagiert auch der Gesetzgeber und hat der wachsenden Bedeutung des Wasserstoffs Rechnung getragen. Der im Januar 2021 vorgestellte Entwurf soll das Energiewirtschaftsgesetz an die neuen Gegebenheiten anpassen. Er sieht erstmals vor, Wasserstoff gleichberechtigt neben die anderen Energieträger Gas und Elektrizität zu stellen. Das soll nicht nur den Aufbau einer eigenen Infrastruktur für Wasserstoff beschleunigen. Speicher und Netze werden ähnlich reguliert wie Strom- und Gasversorgung. Allerdings greifen die neuen Regeln nur, wenn ein Netzbetreiber auch dafür optiert.
Allerdings ist trotz der vielen Projekte keine Autarkie in Sachen grüner Energie gewährleistet. Experten wie der Kieler FH-Professor Andreas Luczak erwarten, dass beim gegenwärtigen Ausbautempo von Wind- und Solarkraft erst in 100 Jahren genug Ökostrom vorhanden sein wird. Der Rest muss importiert werden – ebenso ein nicht unerheblicher Teil des grünen Wasserstoffs.
Friedrich List ist Journalist und Buchautor in Hamburg. Seit Anfang des Jahrhunderts schreibt er über Themen aus Computerwelt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raumfahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Internationalen Raumstation. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.